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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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bringen. Man zählt die Sorgen der Reichen auf und weist die Nichtigkeit ihrer eitlen Freuden nach. Welche plumpen Trugschlüsse! Die Sorgen des Reichen sind nicht die notwendigen Folgen seiner Lebensstellung, sondern fallen einem Mißbrauche derselben zur Last. Wäre er sogar noch unglücklicher als der Arme, so wäre er trotzdem nicht zu bedauern, weil er allein die Schuld an seinen Leiden trägt, und weil es nur auf ihn ankommt, glücklich zu sein. Die Sorgen des Armen sind dagegen die Folgen seiner Verhältnisse, der Härte seines Schicksals, welches schwer auf ihm lastet. Auch die längste Gewohnheit ist nicht im Stande, das physische Gefühl der Ermüdung, der Erschöpfung und des Hungers von ihm zu nehmen. Weder hohe Geistesgaben noch Weisheit vermögen ihn von den Leiden seines Standes zu befreien. Welcher Gewinn erwächst dem Epictet daraus, daß er voraussieht, sein Herr werde ihm noch das Bein zerschmettern? Läuft er etwa deshalb weniger Gefahr, daß es ihm derselbe zerschlagen werde? Die Voraussicht tritt nur als ein neues Uebelzu der Zahl seiner alten Uebel hinzu. Besäße das Volk eben so viel überlegende Klugheit, als wir ihm geistige Unfähigkeit beimessen, was würde es anders sein können, als was es jetzt ist? Was würde es anders thun können, als was es jetzt thut? Lernet nur die Leute dieser Classe besser kennen und ihr werdet euch überzeugen, daß sie, wenn sie auch eine andere Sprache führen, dem ungeachtet eben so viel Geist und sogar ein weit richtigeres Urtheil besitzen als ihr. Achtet deshalb euer Geschlecht; bedenkt, daß es wesentlich aus der Volksmasse gebildet wird, daß die Lücke, welche durch die Beseitigung aller Könige und Philosophen entstände, kaum bemerkbar sein würde und der Weltlauf sicherlich nicht darunter zu leiden hätte. Mit einem Worte, lehrt euren Zögling alle Menschen lieben, selbst diejenigen, welche mit Verachtung auf ihre Mitmenschen herabblicken. Erzieht ihn so, daß er sich nicht als Glied einer besonderen Classe betrachte, sondern sich in allen wiederfinde. Sprecht von dem menschlichen Geschlechte in seiner Gegenwart mit aufrichtiger Theilnahme, selbst mit Mitleid, aber niemals mit Verachtung. Mensch, entehre den Menschen nicht!
    Dieser und ähnlicher Wege, die den bisher eingeschlagenen allerdings ganz entgegengesetzt sind, muß man sich bedienen, um in das Herz des Jünglings einzudringen, damit in demselben die ersten Regungen der Natur wach werden, es sich mehr und mehr entfalte und für die Mitmenschen zu schlagen beginne. Ich kann jedoch nicht unterlassen, dem noch die Bemerkung hinzuzufügen, daß es dabei von äußerster Wichtigkeit ist, diese Regungen so viel als möglich von allem persönlichen Interesse frei zu erhalten. Fern bleibe vor Allem jede Eitelkeit, jeder Wetteifer, jede Ruhmsucht, jedes Gefühl, welches uns antreibt, uns mit Anderen zu vergleichen. Denn solche Vergleichungen lassen sich nicht anstellen, ohne daß sich in uns ein gewisses Gefühl des Hasses gegen diejenigen festsetzt, welche uns den Vorrang streitig machen, und wäre es auch nur nach unserer eigenen einseitigen Schätzung. Dann bleibt Einem nur die Wahl, sich blind zu stellen oder sich zu erzürnen, schlecht zu sein oder albern. Geben wir unsMühe, dieser Alternative aus dem Wege zu gehen. Freilich kann man mir den Einwurf machen, daß diese so gefährlichen Leidenschaften aller unserer Gegenbemühungen ungeachtet doch früher oder später zum Vorschein kommen werden. Ich läugne es nicht. Jedes Ding hat seine Zeit und seinen Ort; ich stelle nur den Satz auf, daß man zu ihrer Entstehung nicht hilfreiche Hand leisten dürfe.
    Darin spricht sich der Geist der Methode aus, deren Beobachtung man sich zur Pflicht machen sollte. Beispiele und Einzelheiten sind hierbei überflüssig, weil hier die Charaktere nach den verschiedensten Richtungen auseinander zu gehen beginnen, und weil jedes Beispiel, welches ich anführen könnte, vielleicht nicht auf Einen unter Hunderttausenden passen würde. In diesem Alter ist es deshalb auch, wo für den geschickten Lehrer die eigentliche Aufgabe des Beobachters und Philosophen anfängt, der die Kunst versteht, die Herzen zu erforschen, indem er an ihrer Bildung arbeitet. So lange der junge Mann noch nicht daran denkt, sich zu verstellen, und es noch nicht gelernt hat, kann man bei jedem Gegenstande, den man ihm zeigt, an seinen Mienen, seinen Blicken, seinen Geberden sofort den Eindruck erkennen, welchen derselbe auf ihn ausübt. Man

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