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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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vermag auf seinem Antlitze alle Regungen seiner Seele zu lesen. Durch aufmerksame Beobachtung derselben bringt man es dahin, sie vorauszusehen, und endlich, sie zu leiten.
    Man wird fast überall wahrnehmen, daß Blut, Wunden, Klagegeschrei, Seufzer, Vorbereitungen zu schmerzhaften Operationen, und überhaupt Alles, was uns unsere Sinne als Gegenstände des Leidens erkennen lassen, alle Menschen am schnellsten und am allgemeinsten ergreift. Die Idee der Vernichtung erschüttert uns, da sie zusammengesetzter ist, nicht in gleich hohem Grade. Das Bild des Todes macht erst später Eindruck auf uns und berührt uns schwächer, weil noch Niemand die Schrecken des Todes an sich selbst erfahren hat. Man muß Leichname gesehen haben, um die Angst mit dem Tode Ringender nachempfinden zu können. Hat sich dies Bild jedoch erst einmal in unserem Geiste festgesetzt, dann gibt es auch für unsereAugen kein gräßlicheres Schauspiel, sei es nun wegen der Idee völliger Vernichtung, die sich uns durch die Vermittelung unserer Sinne überwältigend aufdrängt, oder weil wir uns bewußt sind, daß dieser Augenblick für alle Menschen unvermeidlich ist, und wir uns von einem Zustande, von dem es feststeht, daß wir ihm nicht entgehen können, lebhafter ergriffen fühlen.
    Diese verschiedenen Grade haben ihre Modificationen und Abstufungen, welche von dem besonderen Charakter und den früheren Gewohnheiten jedes Einzelnen abhängen. Aber sie finden sich allgemein und Niemand ist von ihnen völlig frei. Es kommen freilich auch erst später auftretende und weniger allgemein verbreitete vor, welche mehr den gefühlvollen Seelen eigen sind. Sie haben ihre Quelle in moralischen Leiden, in innerem Schmerze, in Kummer, Gram und Trauer. Es gibt Menschen, auf die nur lautes Klagegeschrei und Thränen Eindruck hervorbringen. Niemals hat ihnen ein fortwährendes geheimes Seufzen eines von Kummer überwältigten Herzens ebenfalls einen Seufzer zu entlocken vermocht, niemals hat der Anblick einer gebeugten Haltung, eines abgehärmten und bleichen Gesichts, eines erloschenen Auges, in welchem die Thränen längst versiecht sind, ihre Augen mit Thränen gefüllt. Für sie bedeuten Seelenleiden nichts. Ueber diese haben sie sich ein für allemal ein Urtheil gebildet, wie es sich von Solchen erwarten läßt, deren Seele völlig gefühllos ist. Rechnet bei ihnen nur auf unbeugsame Strenge, Härte und Grausamkeit. Sie können wol unbescholten und gerecht sein, nie aber gütig, edelmüthig und mitleidig. Ich sage, sie können möglicherweise gerecht sein, wenn ein erbarmungsloser Mensch es überhaupt zu sein vermag.
    Hütet euch jedoch, euch durch diese Regel zu einem übereilten Urtheile über junge Leute, namentlich über solche hinreißen zu lassen, die in Folge einer richtigen Erziehung, bei welcher man alle moralische Leiden von ihnen fern gehalten hat, keinen Begriff von denselben haben; denn, noch einmal, sie können nur über die Leiden, welche sie kennen, Bedauern empfinden, und diese scheinbare Gefühllosigkeit, welche ihren Grund nur in ihrer Unwissenheit hat, verwandeltsich bald in Rührung, sobald sie zu fühlen anfangen, daß es im menschlichen Leben tausenderlei Schmerzen gibt, die sie nicht kennen. Was meinen Emil anlangt, so halte ich mich für überzeugt, daß es ihm, wenn er als Kind Einfalt und ein richtiges Urtheil besaß, als Jüngling nicht an Seele und Gefühl fehlen wird, denn die Wahrheit der Gefühle beruht im hohen Grade auf der Richtigkeit der Begriffe.
    Aber weshalb hier erst noch daran erinnern? Ohne Zweifel wird mir mehr als ein Leser den Vorwurf machen, ich wäre meiner früheren Absichten und des beständigen Glückes, welches ich meinem Zöglinge verheißen hatte, nicht eingedenk geblieben. Unglückliche, im Sterben Liegende, Bilder des Schmerzes und des Elends, welch ein Glück, welch ein Genuß für ein junges Herz, das eben erst zum Leben erwacht! Sein Alles nur von der trüben Seite anschauender Erzieher läßt ihn, obgleich er ihm eine so angenehme Erziehung in Aussicht stellte, nur zum Leiden aufwachsen. Dergleichen Urtheile wird man sicherlich fällen. Das soll mich jedoch wenig kümmern. Ich habe verheißen, ihn glücklich zu machen, nicht aber es mir zur Aufgabe gestellt, ihn nur zu einem scheinbaren Glücke zu bringen. Liegt die Schuld etwa an mir, wenn ihr euch stets vom Scheine betrügen laßt und denselben für Wirklichkeit haltet?
    Denken wir uns zwei Jünglinge, die nach Beendigung ihrer ersten Erziehung

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