Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
besitzen.«
    Während er so die Menschen nach ihren Sitten im Treiben der Welt studirt, wie er sie zuvor nach ihren Leidenschaften in der Geschichte studirte, wird sich ihm oft Gelegenheit darbieten, über das nachzudenken, was das menschliche Herz angenehm oder unangenehm berührt. So beginnt er denn nun über die Principien des Geschmacks zu philosophiren und sich damit einem Studium hinzugeben, welches für ihn in diesem Lebensabschnitte am angemessensten ist.
    Je weiter man die Begriffsbestimmungen des Geschmacks herholen will, desto mehr verirrt man sich; der Geschmack besteht in nichts Anderem als in der Fähigkeit, sich über das, was der großen Mehrzahl gefällt oder mißfällt, ein richtiges Urtheil zu bilden. Sobald man weiter schweift, weiß man nicht mehr, was Geschmack ist. Daraus folgt noch nicht, daß die Zahl derer, welchen man Geschmack nachsagen kann, größer sei, als die jener Leute, welchen er fehlt; denn obgleich die Mehrzahl über jeden Gegenstand richtig urtheilt, so gibt es gleichwol wenig Menschen, die über Alles dasselbe Urtheil fällen wie sie; und obgleich die Gesammtsumme des Gemeinsamen der verschiedenen Geschmacksrichtungen den guten Geschmack bildet, so gibt es doch nur wenig Leute von Geschmack, eben sowie es nur wenig schöne Personen gibt, obgleich die Schönheit durch die Vereinigung der am häufigsten vorkommenden Gesichtszüge gebildet wird.
    Man darf indeß nicht außer Acht lassen, daß es sich hierbei nicht um das handelt, was man liebt, weil es uns nützlich ist, noch um das, was man haßt, weil es uns Schaden bringt. Der Geschmack macht sich nur bei gleichgültigen Dingen geltend, oder höchstens bei solchen, die durch das von ihnen gehoffte Vergnügen unser Interesse in Anspruch nehmen, nie aber bei solchen, die zur Befriedigung unserer Bedürfnisse dienen. Zur Beurtheilung solcher Gegenstände bedarf es nicht des Geschmacks, dazu genügt schon der bloße sinnliche Trieb. Das ist es, was die reinen Entscheidungen des Geschmacks so schwierig und, dem Anscheine nach, so willkürlich macht. Denn außer dem Instincte, der bestimmend auf den Geschmack einwirkt, läßt sich weiter kein Grund für seine Entscheidungen auffinden. Ferner muß man unterscheiden, nach welchen Gesetzen er in moralischen und nach welchen er in physischen Dingen verfährt. In letzteren erscheinen die Grundsätze des Geschmacks völlig unerklärbar. [59] Es ist eine Beobachtung von großer Bedeutung, daß bei Allem, wobei es auf Nachahmung ankommt, die Moral mit betheiligt ist. [60] Auf diese Weise erklärt man Schönheiten, welche in das Gebiet des Physischen zu gehören scheinen während es in Wirklichkeit gar nicht der Fall ist. Ich will noch hinzufügen, daß sich der Geschmack auch nach localen Gesetzen richtet, welche ihn in tausenderlei Dingen von dem gleichen Klima, den Sitten, der Regierungsform und anderen gesellschaftlichen Einrichtungen abhängig machen. Dazu treten endlich noch andere Gesetze, die sich in Rücksicht auf Alter,Geschlecht und Charakter gebildet haben, und in diesem Sinne ist es völlig wahr, daß über den Geschmack nicht zu streiten ist.
    Alle Menschen haben Geschmack als eine Mitgabe der Natur erhalten; aber nicht Alle besitzen ihn in gleichem Maße, er entwickelt sich nicht bei Allen bis zu demselben Grade, und bei Allen ist er aus verschiedenen Ursachen Wandlungen unterworfen. Das Maß des Geschmacks, das man besitzen kann, hängt von der Empfänglichkeit ab, mit der man ausgestattet ist. Die Ausbildung und Ausdrucksweise desselben hängen von den gesellschaftlichen Kreisen ab, in denen man sich bewegt hat. Erstens muß man zahlreiche gesellschaftliche Kreise aufsuchen, um viele Vergleiche anstellen zu können; zweitens müssen es Gesellschaften des Vergnügens und der Muße sein, denn in Vereinen, die zu geschäftlichen Zwecken zusammentreten, will man nicht Vergnügen, sondern Vortheil finden. Drittens müssen es Gesellschaften sein, in denen die Ungleichheit nicht allzu groß ist, die Tyrannei der hergebrachten Meinung nicht allzu schroff hervortritt, und in denen man mehr dem Genusse als der Eitelkeit fröhnt, denn im entgegengesetzten Falle erstickt die Mode den Geschmack und man trachtet nicht mehr nach dem, was gefällt, sondern nach dem, was auszeichnet.
    In letzterem Falle kann man den guten Geschmack in Wahrheit nicht mehr den Geschmack der Mehrzahl nennen. Weshalb denn nicht? Weil sich das Object ändert. Alsdann hat die Menge kein eigenes Urtheil mehr, sie

Weitere Kostenlose Bücher