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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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sie sich derselben zur Befriedigung dieses Triebes und zur Ergänzung ihrer eigenen Schwäche. Dann werden sie lästig, tyrannisch, herrisch, boshaft, unbändig, kurzum ihre Entwickelung schlägt Bahnen ein, auf die sie nicht durch eine natürliche Herrschsucht gedrängt werden, die sie aber zu derselben führen, denn es bedarf keiner langen Erfahrung um zu fühlen, wie angenehm es ist, durch Anderer Hände zu handeln und nur die Zunge bewegen zu brauchen, um das Weltall in Bewegung zu setzen.
    Mit der körperlichen Entwickelung nehmen die Kräfte zu, man wird weniger unruhig, weniger beweglich, man zieht sich mehr in sich selbst zurück. Leib und Seele setzen sich gleichsam ins Gleichgewicht, und die Natur verlangt von uns nur die zu unserer Erhaltung notwendige Bewegung. Aber die Lust zu commandiren erlischt nicht mit dem Bedürfniß, welches sie hervorgelockt hat; die Ausübung einer gewissen Herrschaft erweckt die Eigenliebe und schmeichelt ihr, und die Gewohnheit nährt und kräftigt sie. Auf solche Weise tritt bloße Launenhaftigkeit an die Stelle des ursprünglichen Bedürfnisses; auf diese Weise nisten sich Vorurtheile und Befangenheit schon frühzeitig ein.
    Haben wir das Princip nun einmal erkannt, so sehen wir auch den Punkt deutlich, wo man von dem Wege derNatur abweicht. Lasset uns nachsehen, was wir thun müssen, um uns auf demselben zu erhalten.
    Weit davon entfernt, überschüssige Kräfte zu besitzen, haben die Kinder für die vielen Anforderungen der Natur nicht einmal genug. Man muß sie also in dem ungestörten Gebrauche aller Kräfte lassen, die ihnen die Natur verleiht und die sie nicht mißbrauchen können. Erster Grundsatz.
    Man muß sie bei Allem, was das physische Bedürfniß erheischt, unterstützen und ihnen überall, wo es ihnen an Verständniß oder Kraft fehlt, ergänzend zur Seite stehen. Zweiter Grundsatz.
    Bei der Hilfe, die man ihnen leistet, muß man sich ausschließlich auf das wirklich Nützliche beschränken, ohne ihrer Launenhaftigkeit oder ihrem unvernünftigen Verlangen im Geringsten nachzugeben, denn die Launenhaftigkeit wird sie nicht quälen, wenn man sie nicht selbst groß gezogen hat, da sie keine Mitgift der Natur ist. Dritter Grundsatz.
    Sorgfältig muß man ihre Sprache und ihre Zeichen studiren, damit man in einem Alter, wo sie sich nicht verstellen können, bei ihren Wünschen unterscheide, was unmittelbar der Natur und was ihrer Launenhaftigkeit entspringt. Vierter Grundsatz.
    Der Geist der hier aufgestellten Vorschriften geht darauf aus, den Kindern mehr wahre Freiheit und weniger Herrschaft zu gestatten, sie mehr an Selbstthätigkeit zu gewöhnen und von dem Verlangen nach fremder Hilfe zu entwöhnen. Indem sie sich auf diese Weise schon frühzeitig gewöhnen, ihre Wünsche mit ihren Kräften in Einklang zu bringen, werden sie die Entbehrung dessen, was zu erlangen nicht in ihrer Macht steht, nur wenig empfinden.
    Darin liegt denn ein neuer und sehr wichtiger Beweggrund, die Körper und Glieder der Kinder vollkommen frei zu lassen, mit der einzigen Vorsichtsmaßregel, die Gefahr des Fallens von ihnen fern zu halten und ihnen keine Gegenstände in die Hände zu geben, an denen sie sich verletzen könnten.
    Unfehlbar wird ein Kind, dessen Körper und Arme frei sind, weniger weinen, als ein in ein Stechkissen eingeschnürtes Kind. Wer nur physische Bedürfnisse kennt, weint auch nur, wenn er leidet, und das ist ein sehr guter Fingerzeig, denn dann weiß man rechtzeitig, wenn es der Hilfe bedarf, und man darf, wenn es möglich ist, keinen Augenblick zögern, sie ihm zu gewähren. Kann man die Schmerzen des Kindes jedoch nicht lindern, so verhalte man sich ruhig und verschwende keine Liebkosungen an dasselbe, um es dadurch zu beruhigen; eure Schmeicheleien werden sein Leibschneiden nicht heilen; allein es wird in seiner Erinnerung behalten, was es nur zu thun braucht, um geliebkost zu werden, und wenn es erst einmal weiß, wie es euch um seinetwillen nach Belieben in unaufhörlicher Geschäftigkeit erhalten kann, dann ist es euer Herr geworden, dann ist Alles verloren.
    In ihren Bewegungen weniger behindert, werden die Kinder weniger weinen; durch ihr Weinen weniger belästigt, wird man sie weniger peinigen, um sie zur Ruhe zu bringen; weniger häufig bedroht und gehätschelt, werden sie weniger furchtsam oder halsstarrig werden und in ihrem natürlichen Zustande besser verharren. Die Kinder können sich weniger durch anhaltendes Weinen als durch unsere unausgesetzten

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