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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Lobeserhebungen bedeckt; auf denen der Alten las man nur Thaten. Sta viator, heroem calcas . [61]
    Selbst wenn ich diese Grabschrift auf einem antiken Monumente gefunden hätte, würde ich doch sofort errathen haben, daß sie unserer Zeit angehört; denn nichts ist unter uns so gewöhnlich als Helden, während sie bei den Alten gar selten waren. Anstatt zu sagen, daß ein Mann ein Held gewesen sei, würden sie die Thaten angegeben haben, die ihn dieses Namens würdig machten. Vergleicht nun mit der Grabschrift dieses Helden die des weibischen Sardanapal:
    An einem Tage ließ ich Tarsus und Anchialus bauen
    und nun bin ich todt.
    Welche sagt wol eurem Bedünken nach mehr? Unser schwülstiger Lapidarstil ist zu nichts nütze, als Zwerge aufzublasen. Die Alten stellten uns die Menschen mit natürlichen Farben dar, und man sah, daß es Menschen waren. Um das Andenken einiger auf dem Rückzugs der Zehntausend verrätherischerweise erschlagener Krieger zu ehren, sagt Xenophon: »Sie starben, unsträflich als Krieger und als Freunde!« Das ist Alles. Bedenkt indeß, von welchen Gedanken das Herz dieses Mannes erfüllt sein mußte, als er dieses so kurze und so einfache Lob niederschrieb. Beklagenswerth derjenige, der es nicht hinreißend findet!
    Auf einem Marmorsteine bei Thermopylä las man die Worte eingegraben:
    Wanderer, verkündige es in Sparta, daß wir hier,
    seinen heiligen Gesetzen getreu, gestorben sind.
    Man fühlt es sofort heraus, daß die Akademie der Inschriften diese hier nicht verfaßt hat. [62]
    Ich würde mich in einer großen Täuschung befinden, wenn meinem Zöglinge, der so wenig Werth auf Worte legt, dieser Unterschied nicht sofort auffallen und einen Einfluß auf die Wahl seiner Lectüre ausüben sollte. Hingerissen von der männlichen Beredsamkeit des Demosthenes, wird er sagen: »Das ist ein Redner«, während er bei der Lectüre des Cicero sagen wird: »Das ist ein Advocat«.
    Im Allgemeinen werden die Schriften der Alten Emils Geschmacke mehr zusagen als die unsrigen, schon ans dem alleinigen Grunde, weil die Alten, als die der Zeit nach früheren, der Natur am nächsten kommen, und weil ihr Genie mehr ihnen selbst angehört. Was la Motte und der Abbé Terrasson auch immer gesagt haben mögen, es gibt doch bei dem Menschengeschlechte keinen wahren Fortschritt der Vernunft, weil Alles, was auf der einen Seite als Gewinn angesehen werden kann, durch Verluste auf der andern Seite wieder aufgewogen wird. Alle Geister müssen stets von demselben Punkte ausgehen, und weil nun die Zeit, welche man zur Erlernung dessen, was Andere gedacht haben, aufwendet, naturgemäß für die Ausbildung des Selbstdenkens verloren geht, so hat man zwar mehr Einsichten gewonnen, besitzt aber dafür weniger Geisteskraft. Wie unsere Arme darin geübt sind, Alles nur mit Hilfe von Werkzeugen und nichts durch sich selbst zu verrichten, so verhält es sich auch mit dem Geiste. Fontenell äußerte, der ganze Streit über die Alten und Neueren lasse sich in die Frage zusammenfassen, ob die Bäume ehedem, ein größere Höhe erreicht hätten als heutigen Tages. Wäre im Landbau eine Umgestaltung eingetreten, so würde es gar nicht so ungehörig sein, diese Frage aufzuwerfen.
    Nachdem ich Emil nun bis zu den Quellen der reinen Literatur habe zurückgehen lassen, zeige ich ihm gleichfalls die Canäle, durch welche sich dieselben in die Behälter der modernen Compilatoren ergossen haben, mache ihn mit Journalen, Uebersetzungen und Wörterbüchern bekannt. Erwirft auf dies Alles einen einzigen Blick, um dann nie wieder darauf zurückzukommen. Zu seiner Erheiterung lasse ich ihn auch das Geschwätz der Akademien anhören. Ich mache ihn darauf aufmerksam, daß jedes Mitglied derselben, sobald es für sich allein ist, stets höhere Geltung hat, als innerhalb der Körperschaft; daraus wird er sich dann schon selbst ein Urtheil über den Nutzen dieser prächtigen Anstalten bilden.
    Auch ins Theater führe ich ihn, nicht etwa um die Sitten, wol aber um den Geschmack zu studiren; denn denjenigen, welche an Nachdenken gewöhnt sind, zeigt er sich dort ganz besonders. »Laß die moralischen Vorschriften bei Seite,« würde ich zu ihm sagen. »Hier ist nicht die Stätte, wo wir uns über sie belehren sollen. Das Theater hat nicht die Bestimmung, der Wahrheit zu dienen; seine Aufgabe ist, die Menschen angenehm zu unterhalten, ihnen Vergnügen zu bereiten; in keiner Schule läßt sich die Kunst, ihnen zu gefallen und das Menschenherz zu

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