Emil oder Ueber die Erziehung
Geschmack bei einer zu übertriebenen Verfeinerung, die die Aufmerksamkeit auf Dinge lenkt, welche die meisten Menschen gar nicht gewahren, allmählich entartet. Diese Verfeinerung erfüllt uns mit Streitsucht. Denn je scharfsinniger man über die Gegenstände nachsinnt, desto mehr vervielfältigen sie sich; der dabei aufgebotene Scharfsinnmacht das Gefühl zwar feiner, aber auch weniger übereinstimmend. Es bildet sich dann ein so vielfacher Geschmack, als es Köpfe gibt. In den Erörterungen darüber, wem der Vorzug eingeräumt werden muß, erweitern sich die Einsichten so wie die philosophischen Anschauungen, und auf diese Weise lernt man denken. Feine Beobachtungen können kaum von anderen als solchen Leuten angestellt werden, denen eine reiche Weltkenntniß zur Seite steht, weil sie sich erst nach Vorangang vieler anderer dem Beobachter aufdrängen, und weil die Aufmerksamkeit solcher Leute, welche sich wenig in zahlreichen Gesellschaften bewegt haben, schon durch die gewöhnlichen und sofort in die Augen fallenden Vorkommnisse völlig in Anspruch genommen wird. Es gibt gegenwärtig auf Erden vielleicht keinen civilisirten Ort, wo der Geschmack im Allgemeinen schlechter wäre als in Paris. Trotzdem wird gerade in dieser Hauptstadt der gute Geschmack ausgebildet, und es erscheinen wenige Bücher von europäischem Rufe, deren Verfasser nicht in Paris ihre Bildung empfangen hätten. Wer jedoch wähnt, es genüge schon, die Bücher, welche dort geschrieben werden, zu lesen, der befindet sich im Irrthume; man lernt aus dem Umgange mit den Schriftstellern mehr als aus ihren Büchern. Und selbst die Schriftsteller sind es nicht einmal, von denen man am meisten lernt. Nein, der Geist der Gesellschaft ist es, der einen denkenden Kopf weiter fördert und seinen Gesichtskreis mehr und mehr erweitert. Besitzet ihr auch nur einen Funken von Genie, so bringet ein Jahr in Paris zu; bald werdet ihr dann Alles sein, was ihr überhaupt zu sein vermögt, oder ihr werdet es nie zu etwas bringen.
Man ist im Stande auch an Orten, wo ein schlechter Geschmack herrscht, denken zu lernen; aber man darf freilich nicht wie diejenigen denken, welche diesen schlechten Geschmack theilen, und es ist in der That sehr schwierig, sich bei längerem Verkehre mit ihnen, davor zu hüten. Durch ihre Beihilfe muß man gleichsam das Instrument, vermittelst dessen wir unsere Urtheile bilden, vervollkommnen, dabei aber vermeiden, es in gleicher Weise wie sie anzuwenden. Ich werde mich hüten, Emils Urtheilsvermögenbis zu dem Grade auszubilden, daß es eine bleibende Schwächung davonträgt, und wenn sein Gefühl fein genug sein wird, um die Verschiedenheiten im Geschmacke der Menschen zu erkennen und zu vergleichen, so werde ich ihn zur Befestigung seines eigenen Geschmacks auf einfachere Gegenstände zurückführen.
Ich werde mich sogar, um ihm einen reinen und gesunden Geschmack zu bewahren, noch nach entfernteren Mitteln umsehen. In dem Geräusche der Zerstreuungen werde ich es trotzdem nicht an Unterhaltungen über nützliche Gegenstände fehlen lassen, und indem ich sie stets auf solche lenken werde, die ihm zu gefallen geeignet sind, werde ich sie ihm eben so angenehm als lehrreich zu machen suchen. Das ist nun die Zeit, in welcher ich ihm unterhaltende Bücher zur Lectüre vorlegen werde, die Zeit, ihn eine Rede analysiren zu lehren und für die Schönheiten der Beredtsamkeit und des Ausdrucks empfänglich zu machen. Die Erlernung der Sprachen um ihrer selbst willen hat wenig Werth; ihr Nutzen ist nicht so bedeutend, wie man gewöhnlich anzunehmen pflegt; aber das Studium der Sprache leitet auf das Studium der allgemeinen Sprachgesetze. Man muß lateinisch lernen, um gut französisch zu verstehen; beide Sprachen muß man studiren und vergleichen, um die Regeln der Redekunst zu begreifen.
Es gibt überdies eine gewisse Einfachheit des Geschmacks, welche zu Herzen geht und sich nur in den Schriften der Alten vorfindet. In der Beredsamkeit, in der Poesie, in jedem Literaturzweige wird Emil die Alten so wiederfinden, wie sie ihm die Geschichte gezeichnet hat: reich an hervorragenden Erscheinungen und nüchtern im Urtheile. Unsere Schriftsteller sagen dagegen wenig, so viel Worte sie auch machen. Uns unaufhörlich ihr eigenes Urtheil als Gesetz vorschreiben, ist nicht das Mittel, das unserige zu bilden. Die Verschiedenheit unseres Geschmacks von dem der Alten kann man an allen Denkmälern, sogar an den Grabmälern erkennen. Die unsrigen sind mit
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