Emil oder Ueber die Erziehung
fesseln, so vollkommen wie dort erlernen.« Das Studium des Theaters führt zu dem der Poesie; beide verfolgen genau dasselbe Ziel. Mit welcher Freude wird er, wenn er auch nur einen Funken von Geschmack für Letztere hat, dann die Sprachen der Dichter, Griechisch, Lateinisch, Italienisch erlernen! Ein je zwangloseres Vergnügen ihm diese Studien bereiten werden, desto größeren Gewinn wird er von ihnen haben; mit köstlicher Freude werden sie sein Herz gerade in einem Alter und unter Umständen erfüllen, wo es einer jeden Art Schönheit, die dazu angethan ist, das Herz zu rühren, mit solcher Wärme entgegenklopft. Man stelle sich vor, wie einerseits mein Emil, andrerseits ein Schüler einer öffentlichen Anstalt das vierte Buch der Aeneide oder den Tibull oder das Symposion des Plato liest. Welch ein Unterschied! Wie tief fühlt sich das Herz des Einen von dem bewegt, was den Anderen ganz ungerührt läßt! O, lieber Jüngling, halte ein, unterbrich deine Lectüre, ich sehe dich in zu hohem Grade erschüttert. Es ist zwar mein Wunsch, daß du an der Sprache der Liebe Gefallen findest, aber nicht, daß sie dich irre leite! Sei ein für Liebe empfänglicher Mensch, aber auch ein verständigerMensch! Bist du nur eins von Beiden, so bist du nichts. – Ob übrigens mein Zögling in den todten Sprachen, in den schönen Wissenschaften und in der Poesie große Fortschritte mache oder nicht, darauf kommt wenig an. Er wird darum nichts an Werth verlieren, wenn er auch von alledem nichts weiß; um alle diese nichtigen Tändeleien handelt es sich bei seiner Erziehung durchaus nicht.
Der Hauptzweck, den ich bei dem Bestreben, ihn das Schöne nach jeder Richtung hin empfinden und lieben zu lehren, verfolge, ist darauf gerichtet, seine Neigungen und seinen Geschmack für immer demselben zuzuwenden, die Entartung seiner natürlichen Triebe zu verhindern und vorzubeugen, daß er nicht eines Tages die Mittel, glücklich zu sein, die er weit näher finden soll, in seinem Reichthume suche. Ich habe mich bereits an einem andern Orte [63] darüber ausgesprochen, daß der Geschmack nur in der Kunst bestände, sich auf Kleinigkeiten zu verstehen, und dies ist vollkommen die Wahrheit. Da nun aber einmal die Annehmlichkeit des Lebens von einem Gewebe von Kleinigkeiten abhängig ist, so ist die Sorge für dieselben nichts weniger als gleichgiltig. Durch ihre Beihilfe lernen wir das Leben mit Gütern erfüllen, welche in der ganzen Wirklichkeit, die sie für uns zu haben im Stande sind, völlig in unserem Bereiche liegen. Ich verstehe hierunter nicht etwa die moralischen Güter, die von der Seelenreinheit abhängen, sondern das allein, was, die Vorurtheile und die allgemeine Meinung bei Seite gesetzt, in das Gebiet der Sinnlichkeit, der wirklichen Sinnenlust gehört.
Man wolle mir gestatten, daß ich zur besseren Klarlegung meiner Idee von meinem Emil, dessen reines und gesundes Herz Niemandem als Regel zu dienen vermag, einen Augenblick absehe und mich selbst als ein deutlicheres und den Sitten des Lehrers näher liegendes Beispiel hinstelle.
Es gibt Stände, welche die Natur zu verändern und die Glieder derselben, sei es zum Bessern, sei es zum Schlechtern, umzuwandeln scheinen. Ein Feiger wird tapfer,sobald er in das Regiment Navarra eintritt. Indeß nimmt man nicht allein im Soldatenstande einen gewissen Corpsgeist an, und nicht nur nach der guten Seite hin lassen sich seine Wirkungen wahrnehmen. Wol hundertmal habe ich mit Schrecken daran gedacht, daß, wenn ich das Unglück hätte, heute in einem gewissen Lande ein Amt, wie ich es im Sinne habe, zu bekleiden, ich morgen fast unvermeidlich ein Tyrann, ein Leuteschinder, ein Mann, der die Volks- wie Fürstenrechte zu schädigen suchte, kurz, schon in Folge meiner amtlichen Stellung ein Feind aller Menschlichkeit, aller Billigkeit und jeglicher Tugend sein würde.
Eben so würde ich, besäße ich Reichthümer, Alles gethan haben, was man zur Erlangung derselben thun muß. Ich würde mich also übermüthig und gemein benehmen, gegen mich allein rücksichtsvoll und zärtlich sein, gegen alle Uebrige aber schonungslos und hart auftreten und auf das Elend des Lumpengesindels mit Verachtung herabblicken, denn den Dürftigen würde ich keinen andern Namen geben, um dadurch in Vergessenheit zu bringen, daß ich einst selbst ihrer Classe angehörte. Endlich würde ich mein Vermögen nur als Mittel benutzen, mir Vergnügungen zu verschaffen, in denen ich ausschließlich leben und weben
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