Emil oder Ueber die Erziehung
wesentlich geändert. Man redet kaum noch von Nothzucht, seitdem sie so wenig nöthig ist und die Männer nicht mehr daran glauben, [2] während sie in den ältesten Zeiten bei Griechen und Juden zu den gewöhnlichsten Verbrechen gerechnet wurde. Damals herrschte noch in den Ansichten eine natürliche Einfachheit, die uns durch unser zügelloses Leben verloren gegangen ist. Wenn in unseren Tagen wenige Fälle der Nothzucht vorkommen, so hat dies seinen Grund nicht etwa darin, daß die Männer enthaltsamer geworden sind, sondern es erklärt sich dieser Umstand dadurch, daß die Menschen heut zu Tage weniger leichtgläubig sind, so daß eine derartige Klage, die ehemals bei den einfachen Völkern Glauben gefunden hätte,nur spöttisches Gelächter erregen würde – es ist vorteilhafter, zu schweigen. Im 5. Buche Mosis (Kap. 22, V. 23-27) steht ein Gesetz, nach welchem ein geschändetes Mädchen mit dem Verführer bestraft werden sollte, sobald das Verbrechen innerhalb der Stadt geschehen wäre. Für den Fall aber, daß es auf freiem Felde oder an abgelegenen Orten begangen wäre, sollte der Mann allein bestraft werden, »denn,« sagt das Gesetz, »er fand sie auf dem Felde, und die vertraute Dirne schrie, und war Niemand, der ihr half.« Diese nachsichtige Deutung lehrte die Mädchen, sich nicht an besuchten Orten überraschen zu lassen.
Diese Verschiedenheit der Ansichten ist nicht ohne Einfluß auf die Sitten geblieben. Eine Folge derselben ist die heutige Galanterie. Da sich nämlich die Männer überzeugten, daß ihre Freuden doch mehr, als sie wähnten, von dem freien Willen des schönen Geschlechts abhingen, so haben sie dieselben durch gefälliges Entgegenkommen sich geneigt zu machen gesucht und sind reichlich dafür entschädigt worden.
Es wird eurer Aufmerksamkeit nicht entgehen, wie uns das Physische unmerklich auf das Moralische führt, und wie sich aus der rein äußerlichen Vereinigung der Geschlechter nach und nach die süßesten Gesetze der Liebe bilden. Nicht weil die Männer es gewollt haben, sind die Frauen zur Herrschaft gelangt, sondern weil es der Wille der Natur ist. Sie gehörte ihnen schon, noch bevor sie dieselbe auszuüben schienen. Derselbe Herkules, der sich einbildete, den fünfzig Töchtern des Thespius Gewalt anzuthun, ließ sich dennoch zwingen, bei der Omphale zu spinnen; und der starke Simson besaß nicht die Stärke der Delila. Die Herrschaft liegt einmal in den Händen der Frauen und kann ihnen nicht entzogen werden, selbst wenn sie Mißbrauch mit derselben treiben. Sie können sie auch nie verlieren, sonst hätten sie sie längst eingebüßt.
In Bezug auf die Folgen der geschlechtlichen Verhältnisse gibt es zwischen beiden Geschlechtern keine Gleichstellung. Der Mann zeigt seine Mannheit nur in gewissen Augenblicken, die Frau dagegen bleibt Frau ihr ganzes Leben oder wenigstens ihre ganze Jugend hindurch. Unaufhörlichwird sie an ihr Geschlecht gemahnt, und um ihre Pflichten genau erfüllen zu können, bedarf sie einer den Anforderungen derselben entsprechenden Körperbeschaffenheit. Ihre Schwangerschaft macht ihr Schonung zur Pflicht; im Kindbett hat sie Ruhe nöthig; so lange sie ihre Kinder stillt, muß sie sich einer bequemen, sitzenden Lebensweise befleißigen, und zur Pflege der Erziehung derselben gehört viel Geduld und Sanftmuth, viel Eifer und herzliche Liebe, die sich durch nichts zurückschrecken läßt. Sie ist das Band zwischen dem Vater und den Kindern, erfüllt ihn mit Liebe zu denselben und beseelt ihn mit dem Vertrauen, sie wirklich die Seinen nennen zu dürfen. Wie großer Zärtlichkeit und Sorgfalt bedarf nicht die Frau, um die Eintracht in der Familie aufrecht zu erhalten! Und nicht etwa die Tugend soll sie zu dem Allen antreiben, sondern Neigung und angeborene Lust, ohne welche das Menschengeschlecht längst ausgestorben wäre.
Die Strenge der gegenseitigen Pflichten beider Geschlechter ist und kann nicht dieselbe sein. Wenn sich die Frau über diese Ungleichheit zwischen sich und dem Manne beklagt, als ob ihr dadurch eine Ungerechtigkeit zugefügt würde, so begeht sie ein Unrecht. Diese Ungleichheit rührt durchaus nicht von einer menschlichen Einrichtung her, wenigstens ist sie keineswegs das Ergebniß eines Vorurtheils. Sie hat ihren Grund einfach darin, daß dasjenige Geschlecht, dem die Kinder von der Natur als ein theures Gut anvertraut sind, auch dem anderen für dieselben bürgen muß. Unzweifelhaft ist es Niemand erlaubt, die Treue zu brechen,
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