Emil oder Ueber die Erziehung
so nehme ich Pferde. Uebernimmt mich Müdigkeit… Aber Emil ermüdet nicht so leicht, er ist kräftig; und weshalb sollte er auch ermüden, da er esnie so eilig hat? Wenn er unterwegs Halt macht, wie könnte er dann Langeweile empfinden? Die Gegenstände seiner Unterhaltung trägt er beständig bei sich. Er sucht einen Meister auf und arbeitet; er setzt seine Arme in Bewegung, um seinen Füßen Ruhe zu gewähren.
Zu Fuß reisen heißt reisen wie Thales, Plato und Pythagoras. Es ist mir schwer faßlich, wie sich ein Philosoph entschließen kann, anders zu reisen und sich selbst um die Gelegenheit zu bringen, die Reichthümer zu erforschen, über welche sein Fuß dahinschreitet und welche die Natur in verschwenderischer Fülle vor seinen Blicken ausbreitet. Wer, der nur ein wenig Gefallen am Landbau findet, hätte nicht Lust, die Erzeugnisse, welche dem Klima der durchwanderten Gegenden eigenthümlich sind, so wie die Art ihrer Cultur kennen zu lernen? Wer kann, wenn er auch nur im geringen Grade ein Freund der Naturgeschichte ist, sich wol entschließen, über ein Erdreich hinzuschreiten, ohne es einer Untersuchung zu unterziehen, einen Felsen zu erklettern, ohne ein Stück davon abzuschlagen, Gebirge zu durchwandern, ohne Pflanzen zu sammeln, mit dem Fuß an Kiesel zu stoßen, ohne nach Fossilien zu suchen? Eure Philosophen, welche sich vor den Damen mit ihren naturwissenschaftlichen Kenntnissen brüsten, haben dieselben in Naturaliencabinetten eingesammelt; sie wissen allerlei Firlefanzereien, sind mit den Namen bekannt, haben aber keinen Begriff von der Natur. Emils Cabinet ist dagegen weit reicher ausgestattet als die umfangreichsten königlichen Sammlungen, denn sein Cabinet umfaßt die ganze Erde. Jedes Ding befindet sich hier an seinem rechten Platze. Der Naturkenner, der diesem Cabinet seine Sorge widmet, hat Alles in die schönste Ordnung gebracht. Daubenton [21] würde es nicht besser machen können.
Wie mannigfaltige Vergnügen vereint man doch bei dieser angenehmen Art zu reisen, ganz abgesehen davon, daß die Gesundheit dadurch gekräftigt und die Laune heiterer wird. Ich habe stets die Beobachtung gemacht, daß die Reisenden, welche sich bequemer weicher Wagenbedienen, träumerisch, übelgelaunt, mürrisch oder leidend aussehen, während die Fußgänger beständig heiter, guter Dinge und mit Allem zufrieden sind. Wie lacht das Herz, wenn man sich der Nachtherberge naht! Wie schmackhaft erscheint das einfachste Mahl! Mit welchem Behagen gönnt man seinen Gliedern bei Tische die verdiente Ruhe! Wie sanft schläft es sich auch in schlechtem Bette! Wer nur darauf ausgeht, sein Ziel zu erreichen, mag immerhin mit der Post fahren, wer aber reisen will, der muß zu Fuß gehen.
Wenn Sophie nicht, noch ehe wir fünfzig Stunden weit auf diese Weise gewandert sind, vergessen ist, so fehlt es mir entweder an Geschicklichkeit, oder Emil besitzt nur äußerst geringe Wißbegierde, denn bei seinen vielen Elementarkenntnissen müßte es eigenthümlich zugehen, wenn er sich nicht versucht fühlen sollte, sich deren noch mehr zu erwerben. Man ist nur in dem Maße wißbegierig, als man Kenntnisse besitzt, und er weiß gerade genug, um Lust zum Lernen zu haben.
So werden wir denn rastlos von Diesem zu Jenem geführt, und gelangen mittlerweile immer weiter. Ich habe uns für unsern ersten Ausflug ein weites Ziel gesteckt. Der Vorwand dazu liegt auf der Hand. Da wir Paris verlassen, müssen wir ein Weib in der Ferne suchen.
Eines Tages sind wir mehr als gewöhnlich in den Thälern und auf den Bergen, wo kein Pfad mehr zu entdecken war, umhergeirrt und können den Rückweg nicht wiederfinden. Das hat indeß wenig zu sagen, denn auch jeder andere Weg ist uns recht, wenn er nur zum Ziele führt. Wenn sich aber der Hunger meldet, muß man irgend wo unterzukommen suchen. Glücklicherweise treffen wir einen Bauer, der uns in seine Hütte führt. Mit großem Appetit greifen wir zu dem dürftigen Mahle zu. Als er gewahrt, daß wir so ermattet und hungrig sind, sagt er zu uns: »Wenn der liebe Gott Ihre Schritte nach der andern Seite des Hügels gelenkt hätte, würden Sie eine bessere Aufnahme gefunden haben. Sie würden in ein Haus des Friedens getreten sein, würden so menschenfreundliche … so liebe Leute kennen gelernt haben… Sie haben zwar kein besseres Herz als ich, sind aber reicher,obgleich verlautet, daß sie früher in noch weit größerem Wohlstande gelebt haben … Nun, sie haben, Gott sei Dank, nicht mit
Weitere Kostenlose Bücher