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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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abgekürzt hätte, wenn er die Macht besessen, diejenigen zu entfernen, welche ihm Langeweile erregten oder ihn bei seiner Ungeduld auch nur von dem ersehnten Augenblicke trennten. So vergeudet Mancher fast die Hälfte seines Lebens nur damit, daß er unaufhörlich von Paris nach Versailles, von Versailles nach Paris, von der Stadt auf das Land, vom Lande in die Stadt und von einem Viertel in das andere zieht, welcher wegen seiner Zeit sehr in Verlegenheit gerathen würde, wenn er nicht das Geheimniß kännte, sie in der geschilderten Weise zu verlieren, und der sich nur deshalb von seinen Geschäften entfernt, um sich damit beschäftigen zu können, sie zu suchen. Er glaubt die Zeit, welche er jetzt mehr darauf verwendet, und mit der er sonst doch nichts anzufangen wüßte, als Gewinn betrachten zu können; oder er eilt wol gar auch nur, um zu eilen, und kommt plötzlich mit der Post inkeiner anderen Absicht angefahren, als um gleich wieder mit ihr zurückzukehren. Sterbliche, werdet ihr denn nie aufhören, die Natur zu lästern? Weshalb wollt ihr euch beklagen, daß das Leben so kurz ist, da es eurer Ansicht nach noch nicht kurz genug ist? Wenn ein Einziger unter euch ist, welcher seine Begierden in dem Grade zu mäßigen versteht, daß er nie den Wunsch hegt, die Zeit möge verfließen, dann wird sie ihm auch nie zu kurz vorkommen. Leben und genießen werden für ihn identische Begriffe sein, und selbst, wenn er im frühen Alter stürbe, wird er mit Befriedigung über den Verlauf seiner Lebenstage seine Augen schließen. [19]
    Wenn mir meine Methode auch nur diesen einen Vortheil bringen würde, so müßte ich sie schon deshalb einer jeden anderen vorziehen. Ich habe meinen Emil nicht zum Wünschen und Erwarten, sondern zum Genießen erzogen. Auch da, wo seine Wünsche über die Gegenwart hinausschweifen, geschieht es doch nicht mit einer so leidenschaftlichen Hitze, daß ihm der scheinbar so träge Verlauf der Zeit unerträglich würde. Er wird nicht allein die Freude genießen, Wünsche zu hegen, sondern wird auch zugleich einen Genuß darin finden, der Erfüllung derselben entgegenzugehen. Außerdem sind seine Leidenschaften so gemäßigt, daß er mit seinen Gedanken stets mehr da weilen wird, wo er ist, als wo er künftig sein wird.
    Wir reisen also nicht mit Extrapost, sondern wie einfache Wanderer. Wir denken nicht allein an die beiden Endpunkte unserer Reise, sondern auch an den Weg, der zwischen ihnen liegt. Die Reise selbst gewährt uns Genuß; sitzen wir doch nicht mißgestimmt und wie eingepfercht in einem kleinen festverschlossenen Käfige, noch reisen wir mit der Weichlichkeit und Ruhe der Frauen. Wir sperren uns nicht gegen die freie Luft ab, noch berauben wir uns des Anblicks der uns umringenden Gegenstände, noch lassen wir uns um die Gelegenheit bringen, sie nachHerzenslust und so oft es uns gefällt in Augenschein zu nehmen. Emil wird seinen Fuß nie in einen Postwagen setzen, nie mit der Post fahren, wenn nicht die größte Eile nöthig ist. Aber was könnte Emil wol je zur Eile bestimmen? Nur ein Einziges, der Lebensgenuß. Soll ich etwa noch hinzufügen Gutes zu thun, wenn sich ihm die Möglichkeit darbietet? Nein, denn darin liegt ja eben der Lebensgenuß. [20]
    Ich kann mir nur eine Art zu reisen vorstellen, die noch angenehmer als das Reisen zu Pferde ist, nämlich das Reisen zu Fuß. Man bricht nach Belieben auf, rastet, wenn es einem behagt und macht größere oder kleinere Tagesreisen, je nach Lust und Laune. Man betrachtet die ganze Gegend; wendet sich bald zur Rechten, bald zur Linken; untersucht Alles, was einen ergötzt, und macht an allen Aussichtspunkten Halt. Fällt mir ein Fluß auf, so wandere ich sein Ufer entlang; bemerke ich einen Laubwald, so suche ich seinen Schatten; gewahre ich eine Grotte, so lenke ich meine Schritte nach ihr; stoße ich auf einen Steinbruch, so untersuche ich sein Gestein. Ueberall, wo es mir gefällt, weile ich. In demselben Augenblicke, wo ich mich zu langweilen beginne, setze ich meinen Wanderstab weiter. Ich bin weder von den Pferden, noch vom Postillon abhängig. Ich brauche mich deshalb nicht an die fahrbaren Straßen und bequemen Wege zu binden. Ich komme überall hin, wohin sich ein Mensch den Weg zu bahnen vermag, ich sehe Alles, was ein Mensch sehen kann, und da ich lediglich von mir abhängig bin, so genieße ich alle Freiheit, die irgend ein Mensch nur genießen kann. Hält mich schlechtes Wetter auf und bemächtigt sich meiner Langeweile,

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