Emil oder Ueber die Erziehung
Entbehrungen zu kämpfen, und lassen die ganze Gegend an dem, was ihnen geblieben ist, Theil nehmen.«
Bei dieser Erzählung von den guten Leuten wird Emils Herz freudig erregt. »Mein Freund,« beginnt er, indem er mich anblickt, »lassen Sie uns das Haus aussuchen, dessen Besitzer von der Nachbarschaft gesegnet werden. Ich würde mich sehr freuen, sie kennen zu lernen; vielleicht wird es ihnen ebenfalls Freude bereiten, unsere Bekanntschaft zu machen. Ich halte mich überzeugt, daß sie uns freundlich aufnehmen werden. Gehören sie zu den Unserigen, so werden wir auch die Ihrigen sein.«
Nachdem uns die Lage des Hauses beschrieben war, machen wir uns auf den Weg und irren im Walde umher. Unterwegs überrascht uns ein heftiger Regenguß. Er hält uns zwar auf, vermag uns aber von unserm Vorhaben nicht zurückzubringen. Endlich finden wir uns wieder zurecht und gelangen, als schon der Abend einbricht, bei dem beschriebenen Hause an. Unter den Gebäuden des Dörfchens, in welchem es liegt, ist es das einzige, das sich bei aller Einfachheit durch ein gewisses stattliches Aeußere auszeichnet. Wir nennen unsere Namen und bitten um gastfreundliche Aufnahme. Man führt uns zum Hausherrn. Er fragt uns aus, aber in höflichster Form. Ohne ihm den Zweck unserer Reise zu verrathen, theilen wir ihm doch die Ursache unseres Umwegs mit. Aus der Zeit seines früheren Wohlstandes hat er sich die Sicherheit des Blicks bewahrt, aus dem Benehmen der Menschen ihren Stand zu erkennen. Wer einmal in der großen Welt gelebt hat, täuscht sich hierin selten. Unser Aeußeres muß ihm wol empfehlenswerth erscheinen, und so wird uns denn der Eintritt gestattet.
Man weist uns ein zwar sehr kleines, aber äußerst sauberes und günstig gelegenes Zimmer an; es wird eingeheizt, wir finden Leinenzeug und frische Wäsche, kurz Alles, was uns Noth thut. »Wie,« sagt Emil ganz erstaunt, »sollte man nicht glauben, daß wir erwartet wären?O, wie recht hatte jener Bauer! Welche Zuvorkommenheit, welche Güte, welche Fürsorge! Und noch dazu für Unbekannte. Mir ist’s, als wäre ich in die Zeiten Homers versetzt.« – »Erkenne es dankbar an,« erwidere ich ihm, »wundere dich aber deshalb nicht. Ueberall sind Fremde willkommen, wo sie eine seltene Erscheinung sind. Je weniger Gelegenheit sich darbietet, Gastfreundschaft zu üben, desto gastfreier wird man. Der Zulauf der Gäste zerstört die Gastfreundschaft. Zu den Zeiten Homers reiste man nicht viel, und die Reisenden fanden deshalb überall eine freundliche Aufnahme. Wir sind vielleicht die einzigen Fremden, die sich seit Jahr und Tag hier haben blicken lassen.« – »Das thut nichts zur Sache,« versetzte er, »es ist sogar ein Lob, die Gäste entbehren zu können, und sie trotzdem stets freundlich aufzunehmen.«
Nachdem wir unsere Kleider getrocknet und einigermaßen in Ordnung gebracht haben, begeben wir uns wieder zu dem Herrn des Hauses. Er stellt uns seiner Gattin vor; sie empfängt uns nicht allein mit Höflichkeit, sondern auch mit Güte. Emil hat die Ehre, ihre Blicke vorzugsweise auf sich zu lenken. Eine Mutter in ihrer Lage sieht einen Mann seines Alters selten ohne Unruhe oder wenigstens ohne Neugier in ihr Haus treten.
Uns zu Liebe läßt man das Abendbrod früher auftragen. Beim Eintritt in den Speisesaal bemerken wir fünf Gedecke. Als wir Platz nehmen, bleibt ein Stuhl leer. Plötzlich tritt ein junges Mädchen ein, verneigt sich tief und setzt sich bescheiden, ohne ein Wort zu äußern. Emil, mit Befriedigung seines Hungers und mit Antworten beschäftigt, grüßt sie, plaudert und ißt weiter. Der eigentliche Zweck seiner Reise liegt seinen Gedanken so fern, daß er sich noch weit vom Ziele glaubt. Die Unterhaltung dreht sich um uns Wanderer und um unser Mißgeschick, uns verirrt zu haben. »Mein Herr,« sagt unser freundlicher Wirth zu Emil, »Sie scheinen mir ein liebenswürdiger und verständiger junger Mann zu sein, und das erinnert mich daran, daß Sie und Ihr Begleiter bei uns fast in ähnlicher Lage, nämlich müde und durchnäßt, angelangt sind, wie einst Telemach und sein Mentor aufder Insel der Kalypso.« – »In Wahrheit können wir wenigstens sagen,« erwidert Emil, »daß uns die Gastfreundschaft der Kalypso zu Theil wird,« und sein Mentor fügt noch hinzu: »Zugleich finden wir auch die Reize der Eucharis.« Obwol nun Emil die Odyssee kennt, hat er doch den Telemach nicht gelesen. Er weiß deshalb nicht, wer Eucharis ist. Dagegen bemerke ich, daß das
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