Emil oder Ueber die Erziehung
junge Mädchen wie mit Blut übergossen ist, starr ans ihren Teller blickt und kaum zu athmen wagt. Die Mutter, welcher die Verlegenheit ihrer Tochter nicht entgeht, macht dem Vater ein Zeichen, und dieser gibt dem Gespräch eine andere Richtung. Während er von seiner Zurückgezogenheit redet, öffnet er uns allmählich sein Herz immer mehr und erzählt von den Begebenheiten, um deren willen er dieselbe aufgesucht, von den Unglücksfällen seines Lebens, von der Standhaftigkeit seiner Gemahlin, von dem Troste, welchen sie in ihrer Verbindung gefunden, von dem friedlichen und ruhigen Leben, welches sie in ihrer Einsamkeit führen, ohne dabei auch nur mit einem Worte des jungen Mädchens zu erwähnen. Seine Erzählung, welche man nicht ohne Interesse anzuhören vermag, macht einen angenehmen und zugleich rührenden Eindruck. Emil hört, bewegt und gerührt, zu essen auf, um desto gespannter zuhören zu können. Und als sich nun am Schlüsse der redlichste der Männer mit strahlender Freude über die aufrichtige Zuneigung der ehrenwerthesten aller Frauen ergeht, ergreift der junge Reisende leidenschaftlich die Hand des Gatten und drückt sie, während er mit der andern die Hand der Wirthin nimmt, sich begeistert über sie neigt und mit seinen Thränen netzt. Die kindliche Lebhaftigkeit des jungen Mannes erfüllt alle Zeugen mit Entzücken. Die Tochter des Hauses jedoch, für dieses Zeichen seines guten Herzens empfänglicher als irgend ein Anderer, glaubt Telemach in ihm zu sehen, wie er von den Leiden des Philoktet ergriffen ist. Verstohlen schaut sie zu ihm herüber, um seine Gestalt zu prüfen, und findet nichts, was diesen Vergleich Lügen straft. Sein ungezwungenes Wesen verräth Freimüthigkeit ohne Anmaßung; in seinem Benehmen spricht sich eine große Lebhaftigkeit aus, ohne daß dieselbejedoch auf Leichtsinn schließen läßt. Seine natürliche Güte verleiht seinem Blicke etwas Sanftes, gibt seinen Zügen etwas Rührendes. Als ihn das junge Mädchen Thränen vergießen sieht, vermag es kaum seine eigenen zurückzuhalten. Aber eine geheime Scham gibt ihm selbst bei diesem so schönen Vorwande die Kraft, sich zu beherrschen. Schon macht es sich Vorwürfe über die Thränen, die es nur mit Mühe zurückdrängen kann, als ob es ein Unrecht wäre, Thränen für seine Familie zu vergießen.
Die Mutter, welche ihre Tochter seit Beginn des Mahles nicht aus den Augen gelassen hat, bemerkt den Zwang, den sie sich anthun muß, und befreit sie aus ihrer Verlegenheit, indem sie sie mit einem Auftrage fortschickt. Schon in der nächsten Minute kehrt das junge Mädchen zurück, aber so außer aller Fassung, daß seine Verwirrung Aller Augen sichtbar ist. Sanft redet die Mutter es deshalb an und sagt: »Sophie, fasse dich; wirst du denn nie aufhören das Unglück deiner Eltern zu beweinen? Du, die du ihnen ein Trost in demselben bist, darfst dich dem Kummer nicht mehr hingeben als sie selbst.«
Bei dem Namen Sophie hättet ihr sehen können, wie Emil erbebte. Von dem Klange eines ihm schon so theuren Namens betroffen, fährt er plötzlich wie aus einem tiefen Schlafe auf und wirft der, welche ihn sich zu führen unterfängt, einen aufmerksamen Blick zu. Sophie, o Sophie! Bist du es, die mein Herz sucht? Bist du es, die mein Herz liebt? Er betrachtet und beobachtet sie mit einer Art Furcht und Mißtrauen. Er sieht vor sich nicht genau das Bild, welches er sich von ihr entworfen hat; er kann sich nicht klar darüber werden, ob die, auf der seine Blicke ruhen, das Bild seiner Phantasie übertrifft oder nicht erreicht. Er studirt jeden ihrer Züge, belauscht jede Bewegung, jede Geberde und findet für Alles tausend verwirrende Auslegungen. Die Hälfte seines Lebens würde er darum geben, wenn sie nur ein einziges Wort reden wollte. Unruhig und aufgeregt blickt er mich an. In seinen Augen lese ich hundert Fragen, aber auch hundert Vorwürfe. Er scheint mir mit jedem Blicke sagen zu wollen: »Leite mich, so lange es noch Zeit ist; wenn mein Herz sich erst ergibtund sich nachher getäuscht findet, werde ich diesen Schlag zeitlebens nicht überwinden können.«
Emil ist wol in der ganzen Welt der Mensch, welcher sich am wenigsten zu verstellen versteht. Wie sollte er wol in der größten Verwirrung seines Lebens dazu im Stande sein, umgeben von vier Zuschauern, deren Blicke prüfend auf ihm ruhen und unter denen gerade der scheinbar zerstreuteste in Wirklichkeit der aufmerksamste ist? Sophiens scharfem Auge entgeht seine
Weitere Kostenlose Bücher