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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Grund dieser Erscheinung ist leicht begreiflich. Um meines Emils willen brauchte ich diese Frage kaum in Anregung zu bringen. Er wird geimpft werden oder nicht, ganz wie es Zeit, Ort und Umstände erfordern;für ihn ist es beinahe gleichgiltig. Impft man ihm die Blattern ein, so hat man jedenfalls den Vortheil, seine Krankheit voraus zu wissen und zu erkennen; das hat immer einen gewissen Werth; wird er indeß von den natürlichen Blattern befallen, so haben wir ihn vor dem Arzte bewahrt, und das hat ungleich mehr zu bedeuten.
    Eine exclusive Erziehung, welche lediglich den Zweck verfolgt, diejenigen, welchen sie zu Theil geworden ist, vor dem Volke auszuzeichnen, zieht beständig den kostspieligsten Unterricht dem gewöhnlichen und eben um deswillen nützlichsten vor. Aus diesem Grunde lernen auch die mit größter Sorgfalt erzogenen jungen Leute sämmtlich reiten, weil dies mit vielen Geldausgaben verbunden ist; aber fast Keiner von ihnen lernt schwimmen, weil es keine Geldkosten verursacht, und weil ein Handwerker eben so gut schwimmen lernen kann, wie jeder Andere. Trotzdem besteigt ein Reisender, ohne zuvor die Reitschule durchgemacht zu haben, ein Pferd, hält sich darauf und bedient sich desselben, so weit es seine Bedürfnisse erheischen; kann man aber nicht schwimmen, so ertrinkt man im Wasser, und ohne es gelernt zu haben, kann man sicherlich nicht schwimmen. Endlich ist man ja durch nichts gezwungen die lebensgefährliche Reitkunst zu betreiben, während Niemand sicher ist, ob er sich nicht durch Schwimmen wird einer Gefahr entziehen können, der man so oft ausgesetzt ist. Emil wird sich im Wasser eben so sicher fühlen wie auf dem Lande. Wären wir nur im Stande, in allen Elementen zu leben! Könnte man lernen, sich in die Lüfte emporzuschwingen, so würde ich einen Adler aus ihm machen, einen Salamander dagegen, wenn man im Feuer zu leben vermöchte.
    Man fürchtet, daß ein Kind beim Schwimmenlernen ertrinken könnte; mag es nun aber beim Lernen ertrinken oder deshalb, weil es nicht schwimmen gelernt hat, immer werdet ihr die Schuld tragen. Einzig und allein die Eitelkeit macht uns tollkühn; man ist es nicht, wenn man von Niemandem gesehen wird; Emil würde es nicht einmal sein, wenn er auch Aller Augen ausgesetzt wäre. Da die Uebung nicht von der Gefahr abhängt, so wird er ineinem Kanale im Parke seines Vaters den Hellespont durchschwimmen lernen.
    Ein Kind kann sich mit einem Erwachsenen noch nicht messen; es besitzt weder seine Kraft noch seine Vernunft; aber es sieht und hört eben so gut oder beinahe so gut als dieser. Es hat einen eben so feinen, obgleich weniger verwöhnten Geschmack, und unterscheidet die Gerüche mit eben so großer Schärfe, obgleich seine sinnliche Begierde dadurch nicht in gleich hohem Grade erregt wird. Die ersten Vermögen, die sich in uns bilden und vervollkommnen, sind die Sinne. Diese sollte man deshalb auch zuerst pflegen; leider sind sie aber gerade die einzigen, die man vergißt oder wenigstens am meisten vernachlässigt.
    Die Sinne üben heißt aber nicht nur von denselben Gebrauch machen, sondern auch durch sie richtig urtheilen lernen, es heißt gleichsam wahrnehmen lernen, denn wir verstehen nur so zu fühlen, zu sehen, zu hören, wie wir es gelernt haben.
    Es gibt eine rein natürliche und mechanische Uebung, welche dazu dient, den Körper zu kräftigen, ohne dabei irgend einen Einfluß auf die Urtheilskraft auszuüben. Schwimmen, laufen, springen, mit dem Kreisel spielen, mit Steinen werfen, das ist zwar Alles recht gut, aber haben wir denn nur Arme und Beine? Besitzen wir nicht auch Augen und Ohren? Und sind diese Organe beim Gebrauche der ersteren etwa überflüssig? Uebt deshalb nicht nur die Kräfte, sondern auch alle Sinne, welche sie leiten. Zieht aus jedem derselben den größtmöglichen Vortheil und vergleicht die Eindrücke mit einander, die ihr von jedem einzelnen empfangt. Meßt, zählt, wägt, prüft! Wendet die Kraft erst an, nachdem ihr den Gegendruck abgeschätzt habt; seht bei allen euren Handlungen darauf, daß stets die Abschätzung der Wirkung der Anwendung der Mittel vorhergehe. Gewöhnt das Kind daran, nie unzureichende oder überflüssige Kraftanstrengungen zu machen. Wenn ihr es anhaltet, in dieser Weise die Wirkung aller seiner Bewegungen vorauszusehen und seine Irrthümer durch die Erfahrung zu berichtigen, ist es dannnicht einleuchtend, daß es um so urteilsfähiger werden wird, je tätiger es ist?
    Nehmen wir an, es handele sich

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