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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Nachts beim Rauschen eines Blattes wie Weiber zittern sehen. Man schreibt diese Furcht den Ammenmärchen zu; indeß täuscht man sich; sie hat eine natürliche Ursache. Wie heißt sie? Es ist dieselbe, welche Taube mißtrauisch und die niedrigen Stände abergläubisch macht, nämlich die Unbekanntschaft mit den Dingen, die uns umgeben, und mit dem, was um uns vorgeht. [30]
    Gewohnt, die Gegenstände schon aus der Ferne wahrzunehmen und sich über ihre Eindrücke schon im Voraus Rechenschaft abzulegen, wie sollte ich, wenn ich von meinerUmgebung nichts mehr zu unterscheiden vermag, mir nicht tausend Wesen, tausend Bewegungen vorstellen, welche mir zu schaden im Stande sind und vor denen ich mich unmöglich schützen kann? Ich mag immerhin wissen, daß ich an dem Orte, an welchem ich mich befinde, in völliger Sicherheit bin, so gut, als wenn ich es mit Augen sähe, weiß ich es doch nicht; es bleibt mir also immer eine Ursache zur Furcht, die am hellen Tage nicht vorhanden war. Freilich weiß ich, daß ein fremder Körper kaum auf den meinigen einzuwirken vermag, ohne sich schon vorher durch irgend ein Geräusch zu verrathen. Wie wachsam ist deshalb auch unaufhörlich mein Ohr! Bei dem geringsten Geräusch, dessen Ursache ich nicht erkennen kann, läßt mich das Interesse für meine Erhaltung sofort Alles annehmen, was mich auf meiner Hut zu sein nöthigt, und was folglich gerade am meisten geeignet ist, mich in Schrecken zu setzen.

    Vernehme ich auch durchaus nichts, so bin ich deshalb doch nicht völlig ruhig; denn am Ende kann man mich auch ohne jegliches Geräusch überraschen. Ich bin zu der Annahme gezwungen, daß sich die Dinge noch in demselben Zustande wie vorher befinden, bin gezwungen mir vor Augen zu stellen, was ich doch nicht sehen kann. Da mich dies nöthigt, meiner Einbildungskraft freien Spielraum zu gewähren, so bin ich ihrer bald nicht mehr Herr, und gerade das, was ich zu meiner Beruhigung that, dient nur dazu, mich noch mehr in Unruhe zu versetzen. Höre ich Geräusch, so muß es von Dieben herrühren; höre ich nichts, so sehe ich Gespenster. Die Wachsamkeit, welche mir der Trieb der Selbsterhaltung einflößt, zeigt mir nur Furcht erregende Gegenstände. In der Vernunft allein liegt Alles, was mich beruhigen soll; jedoch der Instinct, der stärker ist als sie, führt eine ganz andere Sprache mit mir. Was kann der bloße Gedanke helfen, daß man nichts zu fürchten habe, wenn man sich fortwährend mit ihm beschäftigt?
    Hat man indeß nur erst die Ursache des Uebels gefunden, so weist sie uns von selbst auf das Heilmittel hin. Ueberall ist die Gewohnheit die siegreiche Bekämpferinder Einbildungskraft; nur neue Gegenstände rufen sie wieder wach. Bei solchen Dingen, die man täglich erblickt, tritt nicht mehr die Einbildungskraft, sondern das Gedächtniß in Thätigkeit. Es ist deshalb ein richtiger Grundsatz: ab assuetis non fit passio (Gewohntes wird nicht zur Leidenschaft); denn nur am Feuer der Einbildungskraft entzünden sich die Leidenschaften. Die Furcht vor der Finsterniß läßt sich nicht durch Vernunftgründe vertreiben; ohne sich auf dieselben zu berufen, führe man vielmehr den, welchen man davon befreien will, oft ins Finstere. Ihr könnt davon überzeugt sein, daß alle Beweisgründe der Philosophie nicht so viel ausrichten werden, als diese Gewohnheit. Auf den höchsten Dächern werden die Dachdecker nicht vom Schwindel ergriffen, in ähnlicher Weise wird sich Jeder, welcher daran gewöhnt ist, furchtlos im Finstern aufhalten.
    Hierdurch hat sich also zur Empfehlung unserer nächtlichen Spiele noch ein zweiter Vortheil herausgestellt. Damit diese Spiele aber in der That mit Erfolg gekrönt werden, kann ich Fröhlichkeit dabei nicht angelegentlich genug empfehlen. Es gibt nichts, was in so hohem Grade zur Traurigkeit stimmt, als Finsterniß; deshalb sperrt euer Kind auch niemals in einen gefängnißgleichen finsteren Raum. Lachend muß es in die Finsterniß treten und lachend aus derselben zurückkehren. So lange es sich im Finstern aufhält, muß der Gedanke an die Unterhaltung, die es verläßt, und an die Zerstreuungen, die es nachher aufsuchen wird, die phantastischen Einbildungen von ihm abwehren, die es dort vielleicht sonst beschleichen könnten.
    Es gibt eine Grenze im Leben, über welche hinaus man trotz zunehmendem Alter wieder rückwärts geht. Ich fühle, daß ich diese Grenze überschritten habe; ich beginne nun, so zu sagen, eine umgekehrte Laufbahn. Die Leere des

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