Emil oder Ueber die Erziehung
darum, eine Masse fortzubewegen. Nimmt das Kind eine zu lange Hebestange, so wird es zu viel Bewegung aufwenden, nimmt es dagegen eine zu kurze, so wird es ihm an Kraft fehlen. Die Erfahrung wird es lehren, genau die Stange zu wählen, die erforderlich ist. Diese Einsicht ist für sein Alter nicht zu hoch. Ein anderes Beispiel: eine Last soll fortgetragen werden. Will nun das Kind eine seinen Kräften angemessene Last tragen, und versucht es vorher nicht sie zu heben, wird es dann nicht gezwungen sein, das Gewicht nach dem Augenmaße zu schätzen? Versteht es erst Massen von gleichem Stoffe und verschiedener Größe zu vergleichen, dann lerne es auch unter Massen von gleicher Größe aber von verschiedenem Stoffe eine richtige Auswahl zu treffen; dabei wird es sich notgedrungen Mühe geben müssen, ihre spezifischen Gewichte zu vergleichen. Ich habe einen sehr gut erzogenen jungen Mann gekannt, der sich erst nach angestelltem Versuche überzeugen ließ, daß ein Eimer voll eichener Hobelspäne leichter sei, als derselbe Eimer voll Wasser.
Der Gebrauch unserer Sinne steht nicht bei allen in gleicher Weise in unserer Gewalt. Einer derselben nämlich, das Gefühl, befindet sich, so lange wir wach sind, in ununterbrochener Tätigkeit. Es ist über die ganze Oberfläche unseres Körpers verbreitet, um uns gleichsam wie ein beständiger Wachtposten von Allem, was ihn verletzen könnte, in Kenntniß zu setzen. Zugleich ist es der Sinn, durch dessen beständige Tätigkeit wir uns wohl oder übel die erste Erfahrung erwerben und dem wir folglich weniger eine besondere Pflege zu schenken brauchen. Wir gewahren jedoch, daß die Blinden ein sichreres und feineres Gefühl als wir besitzen, weil sie der Leitung des Gesichtes entbehren und deshalb gezwungen sind, einzig und allein aus dem ersteren Sinne die Urteile schöpfen zu lernen, welche wir dem anderen zu verdanken haben. Weshalb übt man uns also nicht wie jene, im Dunkeln zu gehen, die Körper, welche wir erreichen können, im Finstern zu erkennen unddie Gegenstände, welche uns umgeben, richtig zu beurtheilen; kurz des Nachts und ohne Licht alles das zu thun, was jene am Tage ohne Augenlicht thun? So lange die Sonne scheint, sind wir im Vortheil über sie; im Finstern sind sie jedoch unsere Führer. Wir sind auch unser halbes Leben lang blind, nur wolle man den großen Unterschied nicht außer Acht lassen, daß sich die wirklichen Blinden stets zurecht zu finden wissen, während wir in der Nacht nicht einen einzigen Schritt zu thun wagen. Dafür hat man ja Licht, wird man mir einwenden. Wie? Immer verlaßt ihr euch auf Maschinen? Wer bürgt euch denn dafür, daß sie stets vorhanden sein werden, sobald sich das Bedürfniß nach ihnen zeigt? Ich meinerseits sehe es lieber, daß Emil seine Augen an den Fingerspitzen als im Laden eines Lichtziehers habe.
Seid ihr mitten in der Nacht in einem Gebäude eingeschlossen, so klatschet in die Hände; an dem Wiederhall werdet ihr abnehmen können, ob der Raum groß oder klein ist, ob ihr euch in der Mitte oder in einer Ecke befindet. Einen halben Fuß von einer Wand entfernt, erregt die dünnere, aber deshalb auch stärker zurückgeworfene Luftsäule vor euch eine andere Empfindung im Gesicht. Bleibet auf der Stelle stehen und dreht euch allmählich nach allen Seiten um; eine offene Thür verräth sich durch einen leisen Luftzug. Fahrt ihr auf einem Schiffe, so könnt ihr aus der Art und Weise, wie die Luft euer Gesicht berührt, nicht allein erkennen, nach welcher Richtung es sich bewegt, sondern auch, ob euch die Strömung des Flusses langsam oder schnell fortreißt. Diese und tausend ähnliche Beobachtungen kann man mit Erfolg nur des Nachts anstellen; trotz aller Aufmerksamkeit, welche wir uns am hellen Tage darauf zu verwenden bemühen, werden sie uns doch entgehen, da wir durch das Auge eben sowol zerstreut als unterstützt werden. Bis jetzt habe ich noch nicht einmal auf die Dienste hingewiesen, die Hände und Stab dabei zu leisten vermögen. Wie viele Kenntnisse, die wir dem Gesichtssinne verdanken, kann man sich durch das Gefühl aneignen, selbst ohne etwas zu berühren.
Viele Spiele zur Nachtzeit! Dieser Rath ist wichtiger, als es scheinen möchte. Die Nacht erschreckt natürlicher Weise den Menschen und bisweilen sogar die Thiere. [29] Vernunft, Kenntnisse, Geist und Muth befreien nur Wenige von dieser Schwäche. Ich habe gebildete Männer, Freigeister, Philosophen und Soldaten, die bei hellem Tage ganz furchtlos waren,
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