Emma und der Rebell
Chloe hatte geschworen, Emma bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen,
falls sie je einen Fuß über die Schwelle setzte. Und obwohl Chloe die
gutmütigste aller Adoptivmütter war, wußte Emma, daß die legendäre Miss Reese
in dieser Hinsicht zu keiner Meinungsänderung zu bewegen war.
Emma schloß
gerade ihren Laden auf, als Fulton erschien. Er machte einen sehr aufgeregten
Eindruck.
»Ich muß
mit dir reden«, flüsterte er Emma zu, als befürchtete er, die ganze Stadt
könnte ihn hören.
Emma
seufzte. »Komm herein.«
Er folgte
ihr, und kaum hatte sie die Tür geschlossen, sagte er erregt: »Es muß etwas
gegen die Gerüchte unternommen werden, Emma!«
»Welche
Gerüchte?« entgegnete sie, obwohl ihr klar war, worauf Fulton anspielte.
Anerkennend
musterte er ihren grünen Taftrock und die gestärkte weiße Bluse. »Du siehst gut
aus heute morgen.«
Emma trat
hinter ihren Schreibtisch, um eine Barriere zwischen sich und ihm zu schaffen,
und gab vor, sich mit ihrer Kartei zu beschäftigen. »Danke.«
Fulton
beschloß, nicht lange um den heißen Brei herumzu reden. »Es ist dieser Rebell,
den ihr aufgenommen habt. Er muß aus dem Haus, Emma.«
Sie dachte
an Steven, der am Vorabend mit aufrichtigem Interesse einem weiteren Artikel
von Little Women gelauscht hatte, und senkte den Blick, damit Fulton
nicht merkte, was sie beschäftigte. »Er ist völlig harmlos«, versicherte sie
Fulton, obwohl sie inzwischen wußte, daß Steven nicht bloß eine vorübergehende
Erscheinung in ihrem Leben sein würde. Es sah ganz danach aus, als hätte er
eine einschneidende und bleibende Wirkung auf sie.
»Ich habe
mit Leuten gesprochen, die im Yellow Belly waren, als er hereinkam, Emma«, fuhr
Fulton mit besorgter Miene fort. »Sie sagten, er hätte einen 45er Colt
getragen, und es hätte keinen Mann gegeben, der sich mit ihm anzulegen wagte.«
»Wahrscheinlich
war im ganzen Salon kein einziger Mann, der nüchtern genug dazu gewesen wäre«,
entgegnete Emma trocken.
»Er ist ein
Pistolero«, beharrte Fulton. »Ich muß darauf bestehen, daß du ihn aufforderst,
die Stadt zu verlassen.«
Emma verspürte
das erste, leise Stechen in ihren Schläfen. Fulton hatte kein Recht, auf irgend
etwas zu bestehen, solange sie beide noch nicht offiziell verlobt waren. »Ich
bezweifle, daß er das könnte«, sagte sie. »Er kann nicht einmal alleine
laufen.«
»Dann
schick ihn zu Doc Waverly.«
»Eine
großartige Idee, Fulton. Dann kann der Arzt sich – wenn er ausnahmsweise mal
nüchtern ist –, persönlich um seinen Patienten kümmern.«
Emmas Spott
entging Fulton nicht, und er hieb wütend mit der Faust auf den Schreibtisch. »Verdammt
noch mal, Emma, die Leute behaupten, du hättest den Kerl sogar gebadet!«
Doc
Waverley, die alte Klatschbase, hatte also doch nicht den Mund gehalten! Emma
nahm sich vor, ihm Bescheid zu sagen, wenn sie ihn wiedersah. »Ich glaube, das
besprichst du besser mit Chloe«, antwortete sie Fulton und suchte in einer
Schublade nach dem Pulver gegen Kopfschmerzen.
Beide
wußten, was Chloe sagen würde – daß Fulton sein Geld zählen und sich aus ihren
Angelegenheiten heraushalten sollte. Nur würde sie es nicht ganz so höflich
ausdrücken.
Emma
atmete tief durch,
um Mut zu sammeln. »Außerdem bin ich der Ansicht, daß wir uns in nächster Zeit
nicht so häufig sehen sollten. Wir brauchen beide Zeit, um uns alles zu überlegen.«
Fulton
starrte sie betroffen an, dann drehte er sich auf dem Absatz um und stürmte
wütend aus der Bibliothek.
Emma holte
Wasser und rührte sich ein Pulver gegen ihre Kopfschmerzen an. Glücklicherweise
war sie den ganzen Morgen sehr beschäftigt, und als sie mittags nach Hause
kam, fand sie in der Küche einen Teller mit kaltem Huhn und Brot. Daisy war
nirgendwo zu sehen.
Nachdem
Emma sich überzeugt hatte, daß der Zopf ordentlich geflochten war, kniff sie
sich in die Wangen, um ihnen Farbe zu geben, und ging hinauf zu Steven.
Er wirkte
gereizt, als sie hereinkam.
»Wie fühlen
Sie sich heute?« fragte sie.
Er klappte
das Buch zu, das Emma ihm morgens gegeben hatte. »Gut«, knurrte er.
Sie lachte,
zog sich einen Stuhl heran und stellte den Teller mit den Sandwiches auf ihre
Knie. »Ich weiß, daß Sie sehr nett sein können, wenn Sie wollen, Mr. Fairfax.
Gestern abend, als ich Ihnen vorgelesen habe, haben Sie sich wie ein perfekter
Gentleman verhalten.«
Sein
hungriger Blick auf ihren Teller veranlaßte sie, ihm ein Sandwich zu reichen.
»Danke«, sagte er fast
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