Emma will’s wissen
schon den ganzen Tag ums Haus, darum hab ich alle Türen abgeschlossen und die Jalousien heruntergelassen. Man kann schließlich nicht vorsichtig genug sein.«
Ich seufzte. Kaum dachte ich, Herr Marten wäre wieder halbwegs normal, da redete er schon wieder kompletten Unsinn. »Was für Diebe?«, fragte ich. Dabei wollte ich es eigentlich gar nicht wissen.
»Ich hab dir doch erzählt, dass ich bestohlen werde«, flüs-terte Herr Marten. »Von der Frau, die das Essen ausliefert. Gestern hat sie die Linsensuppe vorbeigebracht.« Er zeigte auf den Teller. »Sie war wieder an meiner Kaffeedose, ich hab’s genau gesehen!« Herr Marten schnaufte empört. »Es ist eine ganze Bande. Sie klauen alles, was sie kriegen können. Und sie haben es auf mich abgesehen. Gut, dass Hilda das nicht mehr miterleben muss. Sie hat immer auf die Kaffeedose aufgepasst wie auf ihren Augapfel.«
Ich wollte etwas sagen, aber mir fiel nichts ein. Darum fragte ich: »Und was wollen Sie jetzt machen?«
»Ich lass diese Verbrecher nicht mehr ins Haus!« Herr Marten grinste verschmitzt. »Heute Mittag hat diese unverschämte Diebin geklingelt und geklingelt, aber ich habe nicht aufgemacht. Da ist sie wieder weggefahren.«
»Und das Essen?«
»Hat sie vor die Tür gestellt. Ich hab’s gleich in die Mülltonne geworfen, als sie weg war.«
»Aber Sie müssen doch etwas essen!« Ich rutschte nervös auf meinem Stuhl hin und her. Am liebsten wäre ich einfach aufgesprungen und weggerannt. Aber ich konnte Herrn Marten jetzt nicht allein lassen.
»Ja, ja, Essen hält Leib und Seele zusammen«, murmelte er.
Den Spruch kannte ich von Oma. Ich kaute auf meiner Unterlippe herum und dachte angestrengt nach. So ging es nicht weiter. Plötzlich fiel mir etwas ein.
»Haben Sie eigentlich Kinder?«, fragte ich.
Herr Marten nickte. »Ja. Sie heißen Inge und Tobias.«
»Aha!« Ich beruhigte mich wieder ein bisschen. Wenn Herr Marten Kinder hatte, konnten die sich doch um ihn kümmern. Das wäre die Lösung! »Und wo sind Ihre Kinder? Wohnen sie auch hier in Tupfingen? Oder in Dederstadt?«
Herr Marten schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Tobias lebt im Ausland.« Er stützte sich auf den Küchentisch und stand langsam auf. »Komm mit, ich zeig dir was!«
Wir gingen ins Wohnzimmer. Auf der Kommode neben dem Fenster standen einige Fotos in silbernen Rahmen. »Das ist Tobias.« Herr Marten zeigte auf ein verstaubtes Schwarz-Weiß-Foto. Darauf war ein kleiner Junge mit hellen Haaren zu sehen, der fröhlich in die Kamera lachte. Er trug eine Lederhose und hielt eine große Schultüte im Arm.
»Und wer ist das?« Ich deutete auf ein anderes Foto. Darauf war ein Mädchen mit Zahnlücke und Pausbacken zu sehen. Sie hatte zwei Rattenschwänze und grinste frech. Ihre Augen blitzten, und ich hätte schwören können, dass ihr gerade irgendein Unsinn durch den Kopf ging.
»Das ist Inge.« Herr Marten lächelte versonnen. »Mein kleines Pummelchen.«
Ich zuckte zusammen. »Wie bitte?«
»So habe ich sie immer genannt, als sie noch klein war«, erklärte Herr Marten. »Du siehst ihr übrigens ein bisschen ähnlich.«
Ich betrachtete das Foto, aber ich fand überhaupt nicht, dass wir uns ähnlich sahen. Ich hatte keine Rattenschwänze und auch keine Zahnlücke. Außerdem BIN ICH NICHT PUMMELIG !!! Trotzdem wurde mir jetzt einiges klar. Herr Marten hielt mich offenbar manchmal für seine Tochter. Darum hatte er mich Pummelchen genannt. Mannomann, ganz schön verrückt! Das musste ich erst mal verdauen.
»Inge lebt mit ihrer Familie in München«, erzählte Herr Marten. »Sie kommen nur selten zu Besuch.« Er klang ein bisschen traurig.
Ich überlegte. München war weit weg. Ein Sohn im Ausland, eine Tochter in einer entfernten Stadt. Das war gar nicht gut.
»Haben Sie denn sonst niemanden, der sich um Sie kümmert?«, fragte ich.
»Nein.« Herr Marten seufzte. »Wenn man so alt ist wie ich, sterben einem allmählich alle Freunde weg. Bald bin ich der Letzte, der noch übrig ist.«
Das fand ich so traurig, dass mir beinahe die Tränen kamen. Aber ich riss mich zusammen. Ich wollte Herrn Marten nicht noch mehr durcheinanderbringen.
»Ich muss jetzt nach Hause«, sagte ich. »Aber ich komme Sie bald wieder besuchen.«
Herr Marten nickte und brachte mich zur Tür. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Als ich um die Straßenecke bog, drehte ich mich noch einmal um. Herr Marten stand immer noch auf der Türschwelle und sah mir nach. Sein blau-weißer
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