Emmas Geheimnis: Roman (German Edition)
erinnern, auf welcher Höhe der Straße es gewesen war, kam aber nicht weit. Das Schaufenster eines Secondhandladens gleich in einem der ersten Häuser zog mich unwiderstehlich an: Drei Schaufensterpuppen standen inmitten bunter Accessoires wie hübsch drapierten Halstüchern, Handtaschen aus Cord und anderen Stoffen, Plateauschuhen, Lackstiefeln, Holzketten, Hüten aus Samt und anderen verrückten Sachen aus vergangenen Jahrzehnten. Die linke Puppe trug ein rot-schwarz getupftes Kleid im Rockabilly-Stil, dazu eine kurze schwarze Lederjacke, ein rotes Haarband und eine riesige, eben falls rot-schwarz getupfte Sonnenbrille. Die Puppe rech ts sah aus, als hätte sie gerade noch Charleston getanzt, bevor sie erstarrt und in dieses Fenster geschafft worden war, wo sie der Nachwelt für immer zeigen würde, wie man vor fast hundert Jahren gefeiert hatte: in einem cremefarbenen, ärmellosen, knielangen Kleid, mit langen schwarzen Handschuhen, die bis zum Ellenbogen reichten, einer langen Zigarettenspitze, schwarzer Federboa und breitem, schwarzem Stirnband. Die dritte Figur hatte es mir richtig angetan. Weit weniger exzentrisch und provokant als ihre Nachbarinnen stand sie ruhig und gelassen zwischen ihnen, die Hände in die Taschen eines halblangen dunkelroten Ledermantels gesteckt, darunter ein hellgrauer Rollkragenpullover zu einer abgewetzten, weit ausgestellten hellen Jeans.
Dieses Schaufenster war so ganz anders als die Auslagen der immer gleichen Läden, die ich vorher gesehen hatte und die sich genauso auch in wohl jeder anderen größeren Stadt Europas hätten finden können. Das hohe Backsteinhaus aus dem 19. Jahrhundert schien den kleinen Laden, den es beherbergte, fast zu erdrücken, und es war, als würde dieses Schaufenster mit all seinen Farben und exzentrischen Kleidern dagegen ankämpfen.
Ich wollte gerade die Tür öffnen, als eine schwarzhaarige Frau in meinem Alter heraustrat und sich eine Zigarette anzündete. Sie sah mich mit einem unverbindlichen Lächeln an.
»Ist das Ihr Laden?«, fragte ich sie.
Sie nickte. »Ziemlich leer heute, leider. Ich verstehe es nicht. Manchmal tummeln sich die Menschen in der Innenstadt und wissen nicht, wo sie hintreten sollen, a ber niemand findet den Weg zu mir. An der Lage kann’s nicht liegen. Ist es die Dekoration? Vielleicht kann ich einfach nicht dekorieren.«
»Die Deko ist großartig«, sagte ich. »Ich laufe schon seit gefühlten zehn Stunden in der Innenstadt herum un d finde nichts, was mich interessiert. Aber hier wollte ich unbedingt rein.«
Sie lächelte, diesmal sehr viel verbindlicher. »Gut! Suchen Sie was Bestimmtes?«
»Nein.«
»N ein?« Sie zog an ihrer Zigarette und hob eine Auge nbraue.
»Na ja. Ich suche einfach etwas, das mir gefällt. Aber nichts Bestimmtes.«
»Wollen wir reingehen und ›nichts Bestimmtes‹ suchen?«
»Sehr gern.«
Der Laden hielt, was das Schaufenster versprach: statt alles vollzustopfen, hatte die Besitzerin Kleidung und Accessoires mit viel Liebe arrangiert und sortiert, und ich konnte mir vorstellen, wie es jeden, der hier hereinkam, auf den ersten Blick zu genau dem Stück zog, das schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten auf diesen neuen Besitzer wartete. Denn mir ging es so mit dem dunkelroten Ledermantel aus dem Schaufenster. Ich bat sie, ihn für mich von der Puppe zu nehmen.
»Das dachte ich mir«, hörte ich die Frau sagen. »Da gehören zwei zusammen.«
Sie hatte recht. Der kurze Mantel passte perfekt, und ich war auf den ersten Blick schrecklich in ihn verliebt. Ich drehte und wendete mich vor dem großen Standspiegel, um ganz sicherzugehen. War er vielleicht an den Schultern zu weit? Waren die Ärmel zu kurz? Gab es Risse im Leder? Oder kaputte Nähte? Nein, alles war perfekt. Ich zog ihn aus, inspizierte das Innenfutter, aber auch da war kein Makel zu finden. Dann zog ich ihn wieder an und konnte nicht anders, als bis über beide Ohren zu strahlen.
»Und? Sie wollen ihn nie wieder ausziehen und werden heute Nacht darin schlafen, was?«
Ich lachte. »Genau. Was kostet er?«
Der Preis war akzeptabel, besonders da es ein sehr schönes, hochwertiges Leder war.
»Die Vorbesitzerin scheint ihn nicht oft getragen zu haben«, sagte ich.
»Gut für Sie.« Die Frau lächelte wissend.
»Gibt’s eine Geschichte dazu?«
»Es gibt zu jedem Stück hier im Laden eine Geschichte.«
Ich sah sie erwartungsvoll an.
»Nur kenne ich sie leider nicht.« Sie zwinkerte mir zu. »Erfinden Sie einfach eine, die
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