Emmas Geheimnis: Roman (German Edition)
es war Jenny, ging ans Telefon. Sie meldete sich nur mit »Hallo?«. Im Hintergrund hörte ich Stimmen und Gelächter und Weihnachtsmusik. Jenny sagte noch ein paarmal: »Hallo? Wer ist denn da?« Und als ich immer noch nichts sagte: »Na dann, frohe Weihnachten, wer immer das auch sein mag.« Und sie legte auf.
Ich hatte nichts sagen können, und danach musste ich heftig weinen. Da war ich seit über einem Jahr vers chwunden, und sie feierten fröhlich Weihnachten? Jenn y war nicht einmal auf die Idee gekommen, dass ich am anderen Ende der Leitung hätte sein können.
Ich hatte einen Job in einem Londoner Krankenhaus im Westen der Stadt gefunden, in Hounslow. Ich bezog ein Haus, das ich mir leisten konnte. Die Bank stellte mir dank meines regelmäßigen Einkommens einen günstigen Kredit.
Es dauerte etwas, bis ich mich eingewöhnt hatte. Vieles war anfangs sehr fremd, weil ich allein zurechtkommen musste. Ich merkte nun erst, wie viel mir mein Exmann an Verantwortung abgenommen hatte. Oder davor die Therapeuten und Sozialarbeiter, die ich jederzeit um Rat hatte fragen können, wovon ich reichlich Gebrauch gemacht hatte. Und davor natürlich meine Eltern …
Die meisten Menschen, die ich nun kennenlernte, waren Inder. Mein Haus war nicht weit von einer Straße, in der fast nur Inder wohnten. Sie lebten schon sehr viele Jahre in Hounslow und natürlich auch länger als ich in England. Sie halfen mir mit all meinen Fragen zu Müllabfuhr, Behördengängen und wo der nächste Laden war. Meine neuen Nachbarn waren entzückend. Sie fragten mich ständig nach meiner Heimat aus, wie ich aufgewachsen war. Sie wollten einfach alles wissen und waren bei aller Distanzlosigkeit so herzlich und freundlich und auf ihre eigene Art extrem höflich, dass ich mich schnell aufgehoben fühlte.
Im Krankenhaus hatten wir ebenfalls viele Patienten und Mitarbeiter aus Indien. Ich lernte eine ganze Menge dazu. Wie viele Sprachen es in Indien gibt, zum Beispiel. Und wie unterschiedlich die Regionen sind. Ich erfuhr viel über die Bedeutung ihrer Mythologie. Wie sehr sich einige von ihnen wünschten, als englische Muttersprachler akzeptiert zu werden.
Es waren auch sehr viele andere Nationen vertreten. Mir schwirrte am Anfang wirklich der Kopf – wenn ich da an unser ruhiges, mehrheitlich weißes irisches Viertel in Cork denke … und hier hatte ich die ganze Welt auf einem Fleck. Oder das British Commonwealth …
Ich verliebte mich nach ein paar Wochen in einen jungen Inder, Sanjay. Nicht nur, dass mich seine Schönheit, sein perfektes Gesicht mit den schwarzen Augen, so sehr faszinierte. Ich hatte das Gefühl, dass er mich vollkommen ernst nahm und in mir einen Menschen sah, den sonst keiner bemerkte. Sanjay umgab eine tiefe Ernsthaftigkeit, eine stille, sehnsuchtsvolle Romantik, eine konsequente Disziplin, ein trockener Humor. Er war der vielschichtigste Mensch, den ich je kennengelernt hatte, und seine Freundschaft bedeutete mir in diesem Moment noch mehr als seine Liebe.
Seine Eltern führten mehrere gut gehende Restaurants. Er wurde gerade mit dem Studium fertig und wollte als Journalist arbeiten. Nicht fest bei einer Zeitung, sondern überall auf der Welt. Ich war froh, gerade einen Platz gefunden zu haben, an dem ich mich wohlfühlte. Wir sahen nach vier Monaten ein, dass wir uns zwar sehr viel bedeuteten, unsere Lebenspläne aber offenbar nicht miteinander zu vereinen waren. Er nahm schließlich einen Job bei der BBC in Neu-Delhi an. Ich trauerte sehr um das Ende dieser besonderen Freundschaft mit Sanjay.
Einer der Chefärzte interessierte sich schon seit Längerem für mich, hatte sich aber dezent zurückgehalten. Als er nun erfuhr, dass ich wieder Single war, lud er mich nach unserer Schicht zum Essen ein. Ich mache es kurz: Dr. Sebastian Baker-Harlington und ich wurden ein Paar. Er war gut zwanzig Jahre älter als ich und sprach schnell von Heirat. Ich wollte mich einfach nur trösten, weil ich immer noch an Sanjay hing. Sebastian war geschieden und hatte zwei Söhne, Zwillinge, die kurz vor ihrem Schulabschluss auf einer der renommiertesten Privatschulen im Land, Uppingham, standen. Seine Exfrau war Geschäftsführerin einer Pharmafirma, und ich – war einfach nur ich. Schon auf dem ersten Gartenfest bei seinen Freunden merkte ich, wie falsch am Platz ich war. Ich wusste, ich würde mich nicht nur langweilen, sondern richtig unglücklich werden, wenn ich mich auf diesen Mann wirklich einließ. Ich beendete die Beziehung.
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