Ende eines Sommers
Von den Jahren, die er in Kanada verbrachte, saß er fünf im Gefängnis. Wegen Betrugs, Unterschlagung und Gott weiß was sonst noch. Ist dir nie aufgefallen, daß die ganze Geschichte ein bißchen unnatürlich ist? Keine Besuche. Sehr wenige Briefe. Und nicht ein einziges Foto im ganzen Haus?“
Plötzlich lag die Wahrheit so offen zutage, daß ich mich fragte, weshalb ich nicht selbst schon darauf gekommen war. Ich dachte an das Gespräch, das ich erst vor ein paar Tagen mit meiner Großmutter geführt hatte. Wie wenige Eindrücke hatte sie mir doch von ihrem einzigen Sohn vermittelt. Er wollte in Kanada leben und ist schließlich dort gestorben. Elvie hat Aylwyn nie viel bedeutet … Er sah aus wie Sinclair. Und er war sehr charmant.
Ich war wie betäubt. „Aber warum kam er nie zurück?“
„Ich nehme an, er war einer von den Männern, die im Ausland von Überweisungen aus der Heimat leben … vielleicht stellte sich unsere Großmutter vor, ich wäre ohne seinen Einfluß besser dran.“ Er drückte den Knopf, mit dem das Fenster heruntergelassen wurde, und warf die halbgerauchte Zigarette fort. „So wie sich die Dinge entwickelt haben, glaube ich allerdings nicht, daß es irgendeinen Unterschied gemacht hätte, so oder so. Ich habe einfach die Familienkrankheit geerbt.“ Er lächelte mich an. „Und was nicht geheilt werden kann, muß ertragen werden.“
„Du meinst, alle anderen müssen es ertragen.“
„Ach, komm, für mich ist es schließlich auch nicht leicht. Weißt du, Janey, es ist seltsam, daß du darauf kommst – daß Elvie irgendwann mir gehören wird. Neulich nacht sprachen wir darüber, das Moor zu verkaufen, und darüber, was mit Gibson geschehen soll, da war das mein letzter Trumpf. ‹Elvie wird einmal mir, gehören. Früher oder später gehört es mir. Weshalb sollte ich dann jetzt nicht entscheiden, was damit geschehen soll?›„ Er drehte sich zu mir um und lächelte … sein charmantes, entwaffnendes Lächeln. „Und weißt du, was unsere Großmutter sagte?“
„Nein.“
„Sie sagte: ‚Aber Sinclair, da irrst du dich. Elvie bedeutet dir nichts, es sei denn als Einkommensquelle. Du hast dir ein Leben in London aufgebaut und würdest nie hier leben wollen. Elvie wird an Jane gehen.’“
Und hier also kam ich ins Spiel. Das war das letzte Puzzleteilchen, nun war das Bild vollständig.
„Deshalb wolltest du mich also heiraten. Um Elvie in die Finger zu bekommen.“
„So klingt es ein bißchen unverblümt …“
„Unverblümt!“
„… aber ich denke, das war in groben Zügen die Idee. Außer all den anderen Gründen, die ich dir bereits genannt habe. Und das war wirklich und wahrhaftig und vollkommen aufrichtig gemeint.“
Diese Worte aus seinem Mund brachten schließlich meine Selbstbeherrschung ins Wanken, sie stießen meine Unerschütterlichkeit um wie einen Felsblock, der nur einen Schubs braucht, um den Hügel hinunterzurollen.
„Wirklich und wahrhaftig und aufrichtig. Sinclair, du weißt ja nicht einmal, was diese Worte bedeuten. Wie kannst du sie nur im gleichen Atemzug gebrauchen mit dem … mit all dem, was du mir erzählt hast …“
„Du meinst über meinen Vater?“
„Nein, ich meine nicht über deinen Vater. Dein Vater ist mir egal, und dir kann er genauso egal sein. Und Elvie ist mir auch egal. Ich will Elvie nicht einmal, und wenn Großmutter es mir hinterläßt, werde ich es nicht annehmen. Ich werde es niederbrennen oder verschenken, nur damit du es nicht in deine gierigen Pfoten kriegst.“
„Das ist nicht sehr barmherzig.“
„Ich will auch gar nicht barmherzig sein. Du verdienst keine Barmherzigkeit. Du bist besessen davon, haben zu wollen, das warst du immer schon. Du mußtest immer alles haben … Und wenn du etwas nicht bekommen konntest, hast du es dir einfach genommen. Elektrische Eisenbahnen, Boote, Cricket-schläger und Gewehre, als du klein warst. Und nun Phantasie-autos und Wohnungen in London und Geld und Geld und noch mehr Geld. Du wirst nie zufrieden sein. Selbst wenn ich auf all das einginge, was du von mir verlangst, wenn ich dich heiraten und dir Elvie überlassen würde mit allem Drum und Dran, wäre dir das nicht genug.“
„Du bist ein bißchen weltfremd.“
„So würde ich das nicht nennen. Es geht darum, die Prioritäten richtig zu setzen, zu begreifen, daß Menschen mehr bedeuten als Dinge.“
„Menschen?“
„Ja, Menschen, weißt du, menschliche Wesen, mit Gefühlen und Emotionen und all den Eigenschaften, die
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