Ende eines Sommers
du vergessen zu haben scheinst, wenn du überhaupt je gewußt hast, daß sie existieren. Menschen wie unsere Großmutter, und Gibson, und diese Tessa, die ein Kind von dir bekommt … und fang jetzt nicht wieder an, mir einreden zu wollen, es sei nicht von dir, denn ich weiß, und was wichtiger ist, du weißt verdammt gut, daß es von dir ist. Sie haben ihren Zweck erfüllt, sie sind entbehrlich, und so wirfst du sie einfach über Bord.“
„Dich nicht“, sagte Sinclair. „Dich werfe ich nicht über Bord. Dich nehme ich mit mir.“
„O nein, das tust du nicht.“ Der Ring saß zu fest. Ich zerrte ihn vom Finger, zerschrammte mir dabei den Knöchel und konnte mich gerade noch soweit beherrschen, daß ich ihn Sinclair nicht ins Gesicht warf. Ich griff nach der kleinen Schmuckschachtel, stieß den Ring in den Samt, ließ die Schachtel zuschnappen und warf sie zurück auf die Ablage. „Du hattest recht, als du sagtest, daß wir einander liebten. Wir liebten uns, und ich habe immer gedacht, du wärst der wunderbarste Mensch auf der Welt. Aber es stellt sich heraus, daß du nicht nur verabscheuungswürdig bist, sondern auch noch dumm. Du mußt von Sinnen sein, wenn du glaubst, ich würde einfach mitspielen, als ob nichts geschehen wäre. Du mußt mich für eine ungeheure Idiotin halten.“
Zu meinem Entsetzen hörte ich, wie meine Stimme anfing zu beben. Ich warf mich so weit weg von ihm wie möglich in den Sitz, saß zitternd da und sehnte mich danach, draußen zu sein im Freien oder in irgendeinem riesigen Raum, wo ich schreien, mit Gegenständen um mich werfen und mich überhaupt einem hysterischen Anfall hingeben könnte. Aber das ging nicht. Ich war eingesperrt in dem winzigen Innenraum von Sinclairs Auto, es gab kaum Platz für unsere überschäumenden Gefühle, und schon gar nicht für uns beide.
Ich hörte, wie er neben mir seufzte. „Wer hätte gedacht, daß du mit solch erhabenen Prinzipien aus Amerika zurückkommst“, sagte er.
„Das hat mit Amerika nichts zu tun. Ich bin eben so, und ich werde immer so sein.“ Ich spürte, wie meine Mundwinkel sich nach unten zogen und meine Augen sich mit Tränen füllten. „Und jetzt will ich nach Hause.“
Es nützte nichts. Trotz aller Beherrschung fing ich nun wirklich an zu weinen. Ich suchte nach einem Taschentuch, konnte aber natürlich keines finden und mußte schließlich Sinclairs nehmen, das er mir schweigend reichte.
Ich wischte mir die Tränen ab und putzte mir die Nase, und aus irgendeinem lächerlichen Grund brach diese prosaische Handlung die Spannung zwischen uns. Er nahm ein Paar Zigaretten aus seiner Tasche, zündete sie beide an und gab mir eine davon. Das Leben ging weiter. Ich bemerkte, daß es während unseres Gesprächs dunkel geworden war. Der Mond, nicht mehr neu, aber immer noch eine zarte Sichel, ging im Osten auf, aber er schien nur verschwommen durch den Nebel, der auf den Bergen hing und uns nun allmählich einhüllte.
Ich putzte noch einmal meine Nase und fragte: „Was wirst du jetzt tun?“
„Keine Ahnung.“
„Wenn wir vielleicht mit David Stewart sprechen würden …“
„Nein.“
„Oder mit meinem Vater. Er ist ja vielleicht nicht sehr praktisch, aber er ist sehr klug. Wir könnten ihn anrufen …“
„Nein.“
„Aber Sinclair …“
„Du hast recht“, sagte er. „Es ist Zeit, nach Hause zu fahren.“ Er streckte die Hand aus, um die Zündung einzuschalten. Der Motor erwachte schnurrend zum Leben und übertönte alle anderen Geräusche. „Wir sollten in Caple Bridge anhalten und etwas trinken. Ich glaube, wir können beide einen vertragen – ich auf jeden Fall. Außerdem hat dein Gesicht dann Zeit, sich zu erholen, bevor Großmutter es sieht.“
„Was ist mit meinem Gesicht?“
„Es ist ganz verquollen und aufgedunsen. Genau wie damals, als du die Masern hattest. Du siehst wieder aus wie ein kleines Mädchen.“
10
D as ernsthafte Geschäft des Trinkens ist in Schottland, wie die Teilnahme an einem Begräbnis, ein rein männliches Privileg. Weibliche Wesen jeder Art sind in öffentlichen Bars nicht willkommen, und wenn ein Mann den Fehler machen sollte, seine Frau oder Freundin in einen Pub mitzunehmen, wird von ihm erwartet, sie in einem trübseligen Nebenraum zu unterhalten, außer Sicht und Hörweite seiner krakeelenden Kumpane.
Das Crimond Arms in Caple Bridge bildete keine Ausnahme zu dieser Regel. Wir wurden an diesem Abend in einen eiskalten, unwirtlichen Raum geführt,
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