Endless: Roman (German Edition)
möchte ich die Chance nutzen, um dir zu sagen, was ich empfinde …« Er umschloss ihre Hand fester. »Meine Gefühle für dich werden sich nie ändern, ich erwarte aber nicht von dir, dass du ebenso empfindest. Und ich habe auch nicht die Hoffnung, dass sich etwas ändern wird.«
»Lucien …«
Am liebsten hätte sie sich ihm in die Arme geworfen und begonnen, ihn wild zu küssen.
Am liebsten hätte sie »Ich liebe dich auch« gesagt und die ganze Vampirgeschichte vergessen – die Tatsache, dass er tot war, dass sie lebte und Familie und Freunde hatte, Leute, für die sie verantwortlich war.
Doch sie konnte es nicht.
Denn wenn man seine Schwäche bedachte – und ihre Träume in der letzten Zeit –, dann war es unabdingbar wichtig, dass wenigstens einer von ihnen einen kühlen Kopf bewahrte.
»Lucien«, sagte sie noch einmal, »erinnerst du dich noch
daran, wie du mir an jenem Abend im Metropolitan Museum of Art den Holzschnitt von dem Schloss gezeigt hast, in dem du aufgewachsen bist, und mir von deiner Mutter erzählt hast?«
»Ja, ich erinnere mich«, erwiderte er und zuckte leicht zusammen. »Aber ich halte es für keine besonders gute Idee, in einem solchen Augenblick die Mutter eines Mannes zu erwähnen, Meena …«
»Es tut mir leid«, sagte sie, »aber es geht nicht anders. Du hast mir gesagt, sie sei die erste Frau deines Vaters gewesen, sie sei sehr schön und unschuldig gewesen und er habe sie sehr geliebt. Und nach ihrem Tod haben die Leute geflüstert, sie sei jetzt bestimmt ein Engel …«
Er entzog ihr seine Hand und setzte sich auf.
»Und für Engel ist jetzt definitiv nicht der richtige Zeitpunkt«, erklärte er. Er warf einen Blick auf das Fenster, das mit Brettern vernagelt war, auf denen das größte Kruzifix im Raum hing. »Allerdings kann ich verstehen, dass es schwierig für dich ist, hier nicht daran zu denken.«
»Lucien, du musst mir zuhören«, drängte Meena. »Ich habe ständig diesen Traum, jede Nacht denselben. Und ich glaube, es geht um dich und deine Mutter. Ich weiß nicht, wer es sonst sein könnte. Er findet statt in diesem Schloss, das auf dem Holzschnitt dargestellt ist. Ich habe im Internet recherchiert, wo du aufgewachsen bist – Schloss Poenari –, und es sieht genauso aus. Im Traum sitzt diese Frau auf einem Sitz am Fenster und liest einem kleinen Jungen aus einem Buch vor. Der kleine Junge sieht genauso aus wie du, und die Frau auch. Sie hat lange schwarze Haare, große dunkle Augen und trägt ein blaues Kleid …«
»Ich verstehe nicht, warum du mir das erzählst«, unterbrach Lucien sie barsch. »Du hast also diesen Traum. Ja, und? Ich dachte, du besitzt die Gabe, in die Zukunft zu schauen, nicht in die Vergangenheit.«
»Das stimmt ja auch«, entgegnete Meena verletzt. »Ich meine, es ist immer so gewesen. Aber in der letzten Zeit, ich weiß nicht, da verändert es sich. Es wird stärker oder so. In diesem Traum nämlich liest die Frau dem kleinen Jungen – der wahrscheinlich du bist – aus einem Buch vor, in dem es um Gut und Böse geht. Ich weiß nicht, wieso ich verstehen kann, was sie sagt, weil sie in einer Sprache spricht, die ich noch nie zuvor gehört habe. Sie redet davon, dass niemand vollkommen gut oder vollkommen böse ist und dass alle Geschöpfe Gottes – das betont sie extra noch einmal, alle Geschöpfe – die Fähigkeit haben zu wählen. Das Böse kann ohne das Gute nicht existieren, und selbst manche von Gottes Engeln …«
Lucien erhob sich. Anscheinend wollte er von ihr weg.
Aber es gelang ihm nicht, denn was auch immer mit ihm los war, hinderte ihn daran und warf ihn wieder aufs Bett. Er sank auf die Matratze, raufte sich die Haare und fluchte.
»Lucien« – Meena krabbelte auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter –, »was ist los? Was ist mit dir los?«
»Nichts«, stieß er überraschend heftig hervor.
Meena ließ die Hand sinken. Jetzt bekam sie erst richtig Angst.
Vor ihm.
Was hatte sie getan? Was hatte sie gesagt? Sie hatte gedacht, er würde sich über ihren Traum freuen. Es war ja
kein trauriger Traum. Sie fand ihn hoffnungsvoll … auch wenn in der Geheimen Garde niemand ihre Meinung teilte, dass Dämonen die Fähigkeit zum Gutsein in sich trugen.
Aber sie hatte widersprochen, vor allem Alaric Wulf, der fast das Zimmer verließ, wann immer sie ihren Traum erwähnte. Es bedeutete doch zumindest, hatte sie gemeint, dass Lucien Antonescu eine Mutter gehabt hatte, die ihn geliebt und
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