Endstation Färöer
Kleidung wie die Mannschaft hinten, dazu kurze Stiefel mit Korksohle. Zwischen dem Stiefelschaft und dem Overall konnte man deutlich das Schienbein sehen. Er sah aus wie eine der Marionetten, die in Sizilien oder Mexiko bei Festen zu Ehren der Verstorbenen verwandt werden. Es fehlte nur, dass ihn jemand an den Schnüren zog und zum Hüpfen und Rasseln brachte.
Die Kajüte des Kapitäns war eine kleine Kammer. Außer der Koje und einer Schreibplatte hingen zwei schmale Schränke an der Wand.
In dem einen Schrank standen Bücher von Heinrich Heine, Heinrich von Kleist und Thomas Mann. Ein überzeugter Nazi konnte der Kapitän nicht gewesen sein, denn Heine wie auch Thomas Mann waren unter Hitler verboten worden, Letzterer emigrierte, um sich und seine Familie in Sicherheit zu bringen. Ganz unten lag eine kleine Schachtel mit Abzeichen, als sollte sie versteckt werden, und ich erkannte das Ritterkreuz. Der Kapitän war offensichtlich ein älteres Semester gewesen.
Der andere Schrank war abgeschlossen, ließ sich aber mit einem größeren Brotmesser öffnen. Es gab eine Schublade im Schrank, sonst nichts. In der Schublade lag ein blanker Revolver. Er war geladen und ich steckte ihn mir in den Gürtel unter die Jacke.
Ich schaute den Kapitän an und überlegte, wer ihn und die Mannschaft wohl liquidiert hatte. Einer von der Besatzung? Jemand, der mit an Bord war? Und aus welchem Grund? Wo waren die Papiere des Kapitäns: Logbuch, Codebuch und alles andere? Ich fragte nicht laut und der Kapitän antwortete mir nicht, sah mich nur an und grinste zufrieden.
Ich hatte keine Angst mehr. Das stimmte nicht ganz, denn natürlich hatte ich Angst, aber weder das finstere U-Boot noch die Leichen an Bord bedrückten mich besonders. Etwas anderes machte mir Sorgen.
Ich warf die Schranktür zu und der Kapitän glitt zur Seite. Die ganzen Jahre über hatte er das Gleichgewicht gehalten, aber jetzt, da ich den Grabesfrieden gebrochen und neue Erschütterungen verursacht hatte, legte er sich in einer Staubwolke auf die Seite. Der Schädel mit der Mütze löste sich und rollte auf der Decke herum, der Unterkiefer fiel ab und landete auf dem Boden, während die obere Hälfte in der Mütze lag, der Schädel zuunterst und die Zähne spöttisch in der Luft.
Unter dem, was von dem Po des Kapitäns noch übrig war, ragte ein großes Buch in grauem Wachstuch hervor.
41
Das Logbuch war nur einige Zentimeter am äußersten Rand der Seiten morsch. Papier, das eng aneinander gepresst ist, zerfällt nicht ohne Weiteres. Der Text war handgeschrieben und etwas verblichen, aber bei den Verhältnissen in den letzten vierzig Jahren konnte man sich nur wundern, dass er überhaupt noch lesbar war.
Das U-Boot war vom Typ VII C, 760 Tonnen und im November 1943 bei den Kieler Howaldtswerken gebaut worden. Seine Nummer war U 999 und die Mannschaft nannte es Der Riese. Meine Vermutung war also nicht ganz abwegig gewesen.
Kapitän war Herbert Lucas, Kapitänleutnant, und er hatte auch das Logbuch geführt.
Ein flüchtiges Blättern zeigte, dass in dem Buch vor allem Daten verschiedener Ereignisse verzeichnet waren, das Wetter und die Lichtverhältnisse. Wie das Meer war, die Luft, und ob Sonne oder Mond hinter dem Horizont hervorgekommen waren. Immer wieder stand Qu. dort sowie einige Zahlen. Qu . war wahrscheinlich die Abkürzung für ›Quadrat‹ und die Zahlen wiesen verschlüsselt auf den Punkt der Karte hin, wo sich die U 999 befunden hatte. Außerdem war bei jedem Datum in Stichworten verzeichnet, was passiert war.
Ich sah Kapitän Herbert Lucas dankbar an, der in zwei Teilen auf seiner Koje lag, und gratulierte ihm zu dem geglückten Versuch, seine Peiniger auszutricksen.
Plötzlich hatte ich Lust auf eine Zigarette, aber mein Hals hatte in den letzten Tagen so sehr geschmerzt, dass ich das Rauchen aufgegeben und jetzt keine Zigaretten dabeihatte. Stattdessen setzte ich mich hin und begann zu lesen.
Die U 999 war am 2. Mai 1945 in Flensburg in See gestochen. Zwei Tage zuvor war ›Der Führer‹ gestorben. Herbert Lucas zitierte die Radiomeldung, nach der Hitler an der Spitze einer Heeresabteilung im Kampf gegen die kommunistischen, mongolischen Horden gestorben war. Hinter dieser Neuigkeit standen fünf Ausrufungszeichen, also war klar, was der Kapitän davon hielt.
Der Befehl, in See zu stechen, kam von Hitlers Nachfolger, Großadmiral Dönitz. Als Lucas nach dem Grund fragte, jetzt, da doch alle wussten, dass der Krieg verloren war,
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