Endstation Kabul
der Loya Jirga. Zum ersten Mal spielte ich ernsthaft mit dem Gedanken, einen Warnschuss dort hinüberzujagen. Allein die bürokratischen Folgen hielten mich davon ab. Jeder abgegebene Schuss wurde anhand einer regelmäßigen Magazin-Inventur protokolliert. Es war die ganzen Scherereien nicht wert. Bei meiner ersten, entrüsteten Meldung über meine nächtlichen Beobachtungen hatte mich der Schichtleiter aus ausdruckslosen Augen schulterzuckend angeguckt. Mir war klar, was das hieß: Kümmere dich um deinen Kram und lass sie ihren machen. Es interessierte ihn nicht die Bohne, was sich Nacht für Nacht bei der afghanischen Nationalgarde abspielte.
Gegen vier Uhr am Morgen verklangen endlich die Schreie am Loya-Jirga-Zelt und ich war froh, den leichten Schein der Morgendämmerung auszumachen. Wieder eine fast komplett durchwachte Nacht. Nur etwas dösen, mehr war im Moment nicht drin. Ausschlafen, was für eine süße Vorstellung! Das war das Erste, was ich zu Hause in Deutschland ausgiebig tun würde. Ohne Waffe unter dem Kopfkissen und ohne das Gefühl latenter Bedrohung. Ich hätte im Stehen schlafen können. Einem Zombi gleich schlurfte ich ins »Bad«. Zähne putzen und rasieren, danach einen Kaffee – dann würde ich mich schon besser fühlen. Alex kam gerade sehr missmutig von seiner Dauernachtpatrouille zurück und murmelte: »noch 23 Tage …« Seine Abreise rückte immer näher. Ich freute mich für ihn, fragte mich aber auch: Was passiert dann mit mir? Mein Einsatz war zwar inzwischen auf insgesamt sechs Monate, also bis zum 13. Oktober 2002, verlängert worden. Aber wie es nach der Loya Jirga weitergehen und was meine neuen Aufgaben sein würden, stand noch in den Sternen.
Alex brachte interessante Neuigkeiten mit. Ein deutscher Fernspähtrupp, eine besonders für die Observation ausgebildete Truppe, zog gerade in den fünften Stock ein. Ihr Auftrag lautete: Beobachtung der Ereignisse und Vorkommnisse im Vorfeld der Loya Jirga. Irgendwie kam mir dieser Auftrag sehr bekannt vor. Denselben hatten wir ja auch bekommen! Ein Offizier im Stab, selbst ehemaliger Fernspäher, hatte sie direkt aus Deutschland für diesen Auftrag angefordert, obwohl wir hier seit drei Tagen nichts anderes machten. Diese Logik, diese Verschwendung von Ressourcen ging mir nicht in den Kopf. Wahrscheinlich lag es an Kompetenzgerangel. Die Fernspähereinheiten waren nämlich in Deutschland zum Großteil aufgelöst und ins KSK eingegliedert worden. Nur eine Lehrkompanie, die um ihr Weiterbestehen kämpfte, gab es noch. Ich vermute, dass die Fernspäher ins Land geholt und eingesetzt wurden, damit sie ihre Existenzberechtigung demonstrieren durften. Die neu eintreffenden Kollegen fanden die doppelte Auftragserteilung genauso sinnlos wie Alex und ich. Wir versprachen, engen Kontakt mit ihnen zu halten, damit wir uns bei identischen Aufträgen absprechen und so viel Zeit und Mühe sparen konnten.
Vom Termin her war der Einzug der Fernspähtruppe eine Punktlandung. Denn genau heute, am 11. Juni, startete die offizielle Eröffnungsveranstaltung der Loya Jirga. Gegen elf ging ich in die Lobby, wo ich eine Begegnung der dritten Art hatte. Plötzlich standen zwei Offiziere wie aus dem Boden geschossen vor mir. Es waren Deutsche, ein Major und ein Oberstleutnant.
Sie sahen wie die geborenen Schreibtischmenschen aus, hatten sehr gepflegte Uniformen und weiche Gesichtszüge. Der Major trug eine Brille und das schwarze Barett der Panzertruppe. Einer stellte sich als Mitarbeiter des MAD vor und meinte, sie seien von den österreichischen »Kollegen« auf mich angesprochen worden. Mein Denkapparat arbeitete noch nicht auf vollen Touren. Also nickte ich erst mal, und wir ließen uns in einer stillen Ecke der Lobby nieder. Die beiden Offiziere sagten, im Camp Warehouse seien immer wieder Berichte von einer Person aus dem Hotel mit guten Informationen aus dem Vorfeld der Loya Jirga eingetrudelt: meine Berichte.
Davon wollten sie gerne profitieren und fragten mich frei heraus und ohne Schnörkel, ob ich mir vorstellen könnte, für sie als »Informant« zu arbeiten. Als ich dieses Wort hörte, fiel bei mir der Groschen: Ich sitze hier also gerade in einem Anwerbungsgespräch mit dem MAD, wurde mir klar. Ich ließ mir mein Erstaunen nicht anmerken und konzentrierte mich auf das, was die beiden mir erzählten. Sie teilten mir mit, bereits über einige Quellen aus der Gruppe der Delegierten zu verfügen, dass aber eine zusätzliche nicht schaden würde.
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