Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
schmerzhaften, knurrenden Unterton meiner eigenen Stimme, »warum musst du dann einen Tod für dich sehen? Wenn du ihn sehen kannst, warum kannst du ihm dann nicht aus dem Weg gehen?«
»Ich könnte diesem speziellen Tod aus dem Weg gehen«, sagte sie leise,
»aber es wäre die falsche Entscheidung.«
»Wie kann es jemals eine falsche Entscheidung sein, das Leben dem Tod vorzuziehen?«, sagte ich. Ich stellte fest, dass ich es gebrüllt hatte. Meine Hände waren zu Fäusten geballt.
Sie berührte diese Fäuste mit ihren warmen Händen, umfing sie mit ihren schlanken Fingern. »Darum geht es ja bei alledem hier«, sagte sie so leise, dass ich mich nach vorn beugen musste, damit ich sie hören konnte. Blitze zuckten über den Hängen des Heng Shan. »Der Tod ist dem Leben nie vorzuziehen, Raul, aber manchmal ist er notwendig.«
Ich schüttelte den Kopf. Mir war klar, dass ich in diesem Augenblick trotzig wirken musste, aber das war mir egal. »Wirst du mir sagen, wann ich sterben werde?«, fragte ich.
Sie sah mich direkt an. Ihre dunklen Augen waren unauslotbar tief. »Das weiß ich nicht«, sagte sie nur.
Ich blinzelte. Ich fühlte mich irgendwie gekränkt. Lag ihr zu wenig an mir, um in meine Zukunft zu sehen?
»Natürlich liegt mir etwas an dir«, flüsterte sie. »Ich habe einfach beschlossen, mir diese Wahrscheinlichkeitswellen nicht anzusehen. Meinen Tod zu sehen, das ist... schwierig. Deinen zu sehen wäre...« Sie gab ein seltsames Geräusch von sich, und mir wurde klar, dass sie weinte. Ich rutschte auf der Tatamimatte herum, bis ich die Arme um sie legen konnte.
Sie lehnte sich an meine Brust.
»Tut mir Leid, Spatz«, sagte ich in ihr Haar, obwohl ich nicht genau hätte sagen können, was mir Leid tat. Es war seltsam, sich gleichzeitig so glücklich und so elend zu fühlen. Beim Gedanken, sie zu verlieren, wollte ich schreien, Steine nach dem Berghang werfen. Donner grollte von dem Gipfel im Norden wie ein Spiegel meiner Gefühle.
Ich küsste ihre Tränen fort. Danach küssten wir uns beide, und das Salz ihrer Tränen vermischte sich mit der Wärme ihres Mundes. Dann liebten wir uns wieder, diesmal so langsam, bedacht und zeitlos, wie es zuvor leidenschaftlich gewesen war.
Als wir wieder in der kühlen Brise lagen und unsere Wangen sich berührten, sagte sie: »Du möchtest etwas fragen. Ich spüre es. Was?«
Ich dachte an sämtliche Fragen, die mir vorhin während ihrer »Diskussionsrunde« durch den Kopf gegangen waren – ihre sämtlichen Ansprachen, die ich verpasst hatte, aber kennen musste, um zu begreifen, warum die Kommunionszeremonie notwendig war: Was hat es wirklich mit der Kruziform auf sich? Was hat der Pax auf den Welten vor, wo die Bevölkerung verschwunden ist? Welchen Vorteil erhofft sich der Core von alledem? Was, zum Teufel, ist das Shrike... ist das Ding ein Monster oder ein Wächter? Woher kommt es? Was wird aus uns werden? Was sieht sie in unserer Zukunft, das ich wissen muss, damit wir überleben können... damit sie das Schicksal vermeiden kann, das sie schon vor ihrer Geburt kannte?
Was ist das große Geheimnis hinter der Bindenden Leere, und warum ist es so wichtig, eine Verbindung mit ihr herzustellen? Wie sollen wir von dieser Welt entkommen, wenn der Pax das einzige Farcasterportal wirklich unter geschmolzenem Felsgestein begraben hat und Kriegsschiffe des Pax zwischen uns und dem Schiff des Konsuls warten? Wer sind diese
»Beobachter«, von denen sie gesprochen hat, die der Menschheit seit Jahrhunderten nachspionieren? Was hat es damit auf sich, die Sprache der Toten zu lernen, und so weiter? Warum haben dieses Nemes-Ding und ihre Klon-Geschwister uns noch nicht getötet?
Ich fragte: »Bist du schon mit jemand anderem intim gewesen? Hast du vor mir mit jemandem geschlafen?«
Das war Wahnsinn. Es ging mich nichts an. Sie war fast zweiundzwanzig Standardjahre alt. Ich hatte auch mit anderen Frauen geschlafen – ich konnte mich nicht einmal mehr an ihre Nachnamen erinnern, aber es war in der Heimatgarde gewesen, als ich in den Casinos der Neun Schwänze gearbeitet hatte – wieso sollte mich kümmern, ob – welche Rolle spielte es, ob – ich musste es wissen.
Sie zögerte nur einen Augenblick. »Unser erstes Mal miteinander war nicht mein... erstes Mal«, sagte sie.
Ich nickte und kam mir wie ein Schwein und ein Voyeur vor, weil ich gefragt hatte. Ich verspürte tatsächlich Schmerzen in der Brust, so wie ich mir vom Hörensagen Angina pectoris vorstellte. Ich
Weitere Kostenlose Bücher