Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
mich nicht den Wein trinken?«
»Es ist noch nicht an der Zeit für dich, Raul.«
»Warum nicht?« Ich konnte Zorn und Frustration wieder dicht unter der Oberfläche spüren, wo sie sich mit der dahinrollenden Strömung der Liebe vermengten, die ich für diese Frau empfand.
»Du kennst die vier Stufen, von denen ich spreche...«, begann sie.
»Die Sprache der Toten lernen, die Sprache der Lebenden lernen... ja, ja, ich kenne die vier Stufen«, sagte ich fast wegwerfend, setzte meinen durchaus realen Fuß auf eine durchaus reale Marmorstufe und ging müde einen weiteren Schritt die endlose Treppe hinauf.
Ich konnte sehen, dass Aenea über meinen Tonfall lächelte. »Das alles...
beschäftigt die Person, die zum ersten Mal damit konfrontiert wird«, sagte sie leise. »Im Augenblick brauche ich aber deine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich brauche deine Hilfe.«
Das leuchtete mir ein. Ich streckte die Hand aus und berührte durch die Thermojacke und das Material des Hautanzugs ihren Rücken. A. Bettik sah zu uns herüber und nickte, als würde er unseren Kontakt gutheißen. Ich musste mich daran erinnern, dass er unsere Übertragung durch die Hautanzüge nicht gehört haben konnte.
»Aenea«, sagte ich leise, »bist du die neue Erlöserin?«
Ich konnte sie seufzen hören. »Nein, Raul. Ich habe nie gesagt, dass ich eine Erlöserin bin. Ich wollte nie eine Erlöserin sein. Im Augenblick bin ich nur eine müde junge Frau... ich habe hämmernde Kopfschmerzen... und Krämpfe... es ist der erste Tag meiner Periode...«
Sie musste gesehen haben, dass ich überrascht oder schockiert blinzelte.
Verdammt noch mal, dachte ich, man spricht nicht jeden Tag mit der Erlöserin und bekommt zu hören, dass sie unter etwas leidet, das die Altvorderen PMS genannt haben.
Aenea kicherte. »Ich bin keine Erlöserin, Raul. Ich bin nur auserwählt worden, Diejenige Die Lehrt zu sein. Und das versuche ich zu tun, so lange... so lange ich kann.«
Bei ihrem letzten Satz verkrampfte sich mein Magen vor Angst. »Okay«, sagte ich. Wir erreichten die dreihundertste Stufe und machten wieder gemeinsam eine Pause, während der wir sichtlich lauter keuchten. Ich schaute auf. Immer noch war kein Südtor des Himmels zu sehen. Obwohl wir erst Mittag hatten, war der Himmel schwarz wie das Weltall. Tausend Sterne leuchteten. Sie funkelten kaum. Mir fiel auf, dass das Zischen und Tosen der Strahlströmung verstummt war. T’ai Shan war der höchste Gipfel auf T’ien Shan und ragte in die höchsten Schichten der Atmosphäre.
Ohne die Hautanzüge wären unsere Augen, Trommelfelle und Lungen längst explodiert wie zu stark aufgeblasene Ballons. Unser Blut würde kochen. Unser...
Ich versuchte, an etwas anderes zu denken.
»Na gut«, sagte ich, »aber wenn du die Erlöserin wärst, was wäre deine Botschaft an die Menschheit?«
Aenea kicherte wieder, aber ich merkte, dass es ein nachdenkliches Kichern war, kein spöttisches. »Wenn du der Erlöser wärst«, sagte sie zwischen Atemzügen, »was wäre deine Botschaft?«
Ich lachte laut auf. A. Bettik konnte keinen Ton gehört haben, da wir fast von Vakuum umgeben waren, aber er musste gesehen haben, wie ich den Kopf zurückwarf, denn er sah fragend herüber. Ich winkte ihm zu und sagte zu Aenea: »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
»Genau«, sagte Aenea. »Als ich ein Kind war... ich meine, ein kleines Kind, bevor ich dich kennen gelernt habe... und ich wusste, dass ich einiges von dem hier durchmachen musste... habe ich mich immer gefragt, welche Botschaft ich der Menschheit bringen könnte. Ich meine, abgesehen von dem, was ich würde lehren müssen. Etwas Profundes. Eine Art Bergpredigt.« Ich sah mich um. In dieser schrecklichen Höhe gab es kein Eis und keinen Schnee mehr. Die weißen Stufen führten durch Terrassen steilen, schwarzen Gesteins. »Nun«, sagte ich, »hier ist der Berg.«
»Stimmt«, sagte Aenea, und ich konnte ihr die Erschöpfung wieder anhören.
»Also, welche Botschaft ist dir eingefallen?«, fragte ich, mehr um sie abzulenken und am Reden zu halten, als um die Antwort zu hören. Es war eine Weile her, seit sie und ich uns einfach nur unterhalten hatten.
Ich konnte sie lächeln sehen. »Ich habe daran gearbeitet«, sagte sie schließlich, »und versucht, es so kurz und bedeutend wie die Bergpredigt zu formulieren. Dann ging mir auf, dass das keine gute Idee war – wie Onkel Martin in seiner Manischer-Dichter-Phase versuchte, Shakespeare zu überbieten –, daher
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