Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
Blick durch die klaren Wände in der Spitze muss desorientierend für alle gewesen sein, die oben hinausschauten. Aenea, A. Bettik, Theo und ich sahen in die Holonische, und selbst die verkleinerte Abbildung brachte mich fast dazu, mich an einem der Schotts festzuklammern oder in den Teppich zu krallen. Wir gingen tiefer und schwebten fünfzig Meter über dem Tempelkomplex.
»Ah, verdammt«, sagte Theo.
Das Bild zeigte uns einen Mann, der in den Wolken unter uns in den Tod stürzte. Es war unmöglich, ihn im Sinkflug aufzufangen. Eben befand er sich noch im freien Fall, und im nächsten Augenblick war er von den Wolken verschluckt worden.
»Wer war das?«, fragte Theo.
»Schiff«, sagte Aenea. »Zurückspulen und vergrößern.«
Carl Linga William Eiheji, der Leibwächter des Dalai Lama.
Ein paar Sekunden später kamen einige Gestalten aus dem Pavillon der rechten Versenkung auf die höchste Plattform, an deren Bau ich selbst nach Aeneas Plänen vor nicht einmal einem Monat mitgewirkt hatte.
»Scheiße«, sagte ich laut. Das Nemes-Ding trug den Dalai Lama in einer Hand und hielt ihn über den Rand der Plattform. Sie – es – wurde von den beiden Geschwistern begleitet, die hinter ihr folgten. Dann traten Rachel und die Dorje Phamo aus den Schatten auf die Plattform.
Aenea hielt meinen Arm fest. »Raul, möchtest du mich nach draußen begleiten?«
Sie hatte den Balkon hinter dem Steinway aktiviert, aber ich wusste, dass sie das nicht gemeint hatte. »Natürlich«, sagte ich und dachte: Ist das ihr Tod? Ist es das, was sie schon vor ihrer Geburt vorhergesehen hat? Ist es mein Tod? »Natürlich komme ich mit«, sagte ich.
A. Bettik und Theo wollten uns auf den Balkon des Schiffs begleiten.
»Nein«, sagte Aenea. »Bitte.« Sie nahm die Hand des Androiden einen Moment. »Du kannst alles von hier drinnen sehen, mein Freund.«
»Ich würde es vorziehen, bei Ihnen zu sein, M. Aenea«, sagte A. Bettik.
Aenea nickte. »Aber dies müssen Raul und ich allein erledigen.« A.
Bettik senkte den Kopf einen Moment und drehte sich zum Bild in der Holonische um. Keiner der zahlreichen anderen Leute auf dem Bibliotheksdeck oder der Wendeltreppe sagte ein Wort. Es herrschte Totenstille im Schiff. Ich ging mit meiner Freundin auf den Balkon.
Nemes hielt den Jungen immer noch über den Abgrund. Wir waren zwanzig Meter über ihr und ihren Geschwistern. Ich fragte mich beiläufig, wie hoch sie springen konnten.
»He!«, brüllte Aenea.
Nemes sah auf. Ich erinnerte mich, dass ihr Blick dieselbe Wirkung hatte, als würde man von leeren Augenhöhlen angestarrt werden. Nichts Menschliches wohnte dort.
»Lass ihn los«, sagte Aenea.
Nemes lächelte, ließ den Dalai Lama fallen und fing ihn in der letzten Sekunde mit der linken Hand auf. »Pass auf, was du verlangst, Kind.«, sagte die blasse Frau.
»Lass ihn und die beiden anderen gehen, und ich komme zu dir runter«, sagte Aenea.
Nemes zuckte die Achseln. »Du kommst ohnehin nicht hier weg«, sagte sie, ohne die Stimme zu heben, war aber trotzdem perfekt über die Kluft hinweg zu hören.
»Lass sie gehen, und ich komme runter«, wiederholte Aenea.
Nemes zuckte die Achseln, warf den Dalai Lama aber über die Plattform wie zusammengeknülltes Altpapier.
Rachel lief zu dem Jungen und sah, dass er verletzt war und blutete, aber lebte; sie hob ihn hoch und drehte sich wütend zu Nemes und ihren Geschwistern um.
»NEIN!«, rief Aenea. Ich hatte sie noch nie diesen Ton benutzen hören.
Rachel und ich blieben beide wie angewurzelt stehen.
»Rachel«, sagte Aenea wieder mit normaler Stimme, »bitte bring Seine Heiligkeit und die Dorje Phamo jetzt an Bord des Schiffs.« Es war höflich, aber gleichwohl ein Befehl, dem ich mich nicht hätte widersetzen können.
Rachel auch nicht.
Aenea gab ein Kommando, worauf das Schiff tiefer sank, morphte und eine Treppe vom Balkon ausfuhr. Aenea ging hinunter. Ich beeilte mich, ihr zu folgen. Wir betraten die Plattform aus Bonsaizeder... ich hatte geholfen, sämtliche Planken zu befestigen... und Rachel führte das Kind und die alte Frau an uns vorbei die Treppe hinauf. Aenea berührte Rachels Kopf, als die andere Frau vorbeiging. Die Treppe floss in die Höhe und verschmolz wieder mit dem Balkon. Theo und A. Bettik gesellten sich zu Rachel und der Dorje Phamo. Jemand hatte das blutende Kind ins Schiff gebracht.
Wir standen zwei Meter von Rhadamanth Nemes entfernt. Ihre Geschwister traten an die Seite der Kreatur.
»Wir sind nicht ganz
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