Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches
ich wurde jetzt schon rot. Der Mann achtete nicht darauf. Ein sauerer Rülpser entfuhr ihm.
»Darf ich?« Peter nahm dem Mann das Buch aus der Hand und blätterte es mit Kennermiene durch, studierte die Wörter und beurteilte die Qualität der Handschrift. »Woher kommt Ihr, Freund?«, fragte er in anderem Ton.
»Von hier und von da«, war die Antwort. »London zuletzt, davor Oxford.«
Peter spitzte die Ohren. »Wo?«
»Oxford.« Der Mann malte mit den Fingern eine undeutliche Skizze in den Staub. Eine Reihe hoher Gebäude und Spitztürme entstand vor unseren Augen.
»Nie gehört«, sagte Peter.
»Das wundert mich nicht. Bist ja auch nur ein junger Lackaffe.«
Peter wurde starr, so traf ihn die Beleidigung. »Schon möglich, aber diese Stadt, von der Ihr da sprecht... Wo genau liegt sie?«
»Richtung Norden, über dem Wasser. Keine leichte Reise, das kann ich dir versichern.«
»Ist es ein Ort der Wissenschaft?«
»Kommt gleich nach Paris.«
»Und es gibt dort eine Bibliothek?«
Der Mann hob den Kopf, er merkte, dass er einen interessierten Zuhörer gefunden hatte. Ich hielt mich krampfhaft an meinem Krug mit Apfelwein fest, denn ich ahnte, worauf das Gespräch hinauslaufen würde. Der Fremde spürte meine Unruhe und stand schwankend vom Boden auf.
Er kam zu uns herüber und zwängte sich zwischen uns. »Zahl mir noch einen Krug, dann erzähl ich dir, was du wissen willst.« Er hielt Peter seinen leeren Krug unter die Nase. »Ich heiße William.«
Ich sah kurz zu Peter hin, der unsere restlichen Münzen in der Hand hatte. Er konnte seinem Wissensdrang nicht widerstehen und marschierte in die angrenzende Gaststube. Nicht lange, und er kehrte mit drei frisch gefüllten Krügen zurück.
Ich spürte bereits, wie mir der Wein den Verstand umnebelte, und schob meinen zweiten Krug William hin, der ihn in einem Zug in sich hineinkippte. Er wischte mit dem Ärmel über den Mund, und dann erzählte er uns von der Universitätsstadt Oxford. Die Worte trömten nur so aus ihm heraus, fast so mühelos, wie vorher der Wein in ihn hineingeflossen war. Er hatte Theologie studiert und ein rechtschaffenes Leben in Armut geführt. Da hatte ein Mädchen namens Moll die Leidenschaft in seinem Herzen entfacht - und das Feuer in seinen Lenden. Aus irgendeinem Grund hatte das den Ordnungshütern nicht gefallen, die nachts die Stadt durchstreiften. William wurde in Unehren von der Universität ausgeschlossen. Und schließlich, als Molls Familie von dem Verhältnis Wind bekommen hatte, war William um sein Leben gerannt, verfolgt vom betrunkenen Stadtpöbel, wie er sich ausdrückte. Seitdem war er, halb in den Wahnsinn getrieben, von einer Bibliothek zur nächsten gezogen und hatte als Schreiber gearbeitet. Und Bücher, die er nicht hatte abschreiben können, trug er mit sich im Kopf herum.
»Wenn mich das Leben eines gelehrt hat«, sagte er, »dann dies: Nichts ist so treu und wahr wie das geschriebene Wort.«
»Und diese Bibliothek in Oxford«, fragte Peter, »ist sie groß?«
Ein verträumter Ausdruck trat in Williams Augen. »Truhen und Kästen voll mit Büchern, Räume voller Handschriften, Buchbinder, die mit immer neuen beschäftigt sind ... Es gibt nichts Vergleichbares!«, sagte er. »Jetzt ist sogar noch eine neue Bibliothek im Bau, die einmal die Sammlung von Sir Humphrey beherbergen soll, dem Herzog von Gloucester - Gott lasse ihn in Frieden ruhen.« Unbeholfen versuchte er, ein Kreuzzeichen auf seinem fleckigen Wams zu schlagen. »Die Bibliothek von Oxford wird gewiss einmal ein neues Alexandria: der größte Ort der Wissenschaft diesseits von Rom!«
»Wirklich?«, sagte Peter skeptisch.
Auch ich mochte ihm nicht recht glauben. Ich wusste, dass die Bibliothek von Alexandria von den Griechen erbaut worden war, um die Schriftrollen und Handschriften der ganzen Welt aufzunehmen. Sie war die beeindruckendste und bedeutendste Büchersammlung der Geschichte gewesen. Aber was hingebungsvolle Bibliothekare in Hunderten von Jahren von Durchreisenden erworben hatten, war in einem Flammenmeer aufgegangen. Viele von den größten der Menschheit bekannten Werken hatten sich in Rauch aufgelöst, Opfer des gierigsten Lesers - des Feuers. Vielleicht, fiel mir ein, konnte die Drachenhaut all diese verlorenen Bücher ersetzen?
»Und wenn wir versuchen wollten, diese Bibliothek zu finden?«, fragte Peter. Die Frage machte mir Angst.
»Dann müsst ihr nur immer dem Lauf der Themse folgen. Vom großen Schandfleck London aus immer
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