Engel Der Nacht
den darauffolgenden Empfang mit einberechnete, war meine Mutter auf keinen Fall vor 21:00 Uhr zu Hause. Was mir genug Zeit verschaffte, um den Abend in Portland zu verbringen und dennoch vor ihr wieder zurück zu sein.
»Und ich hatte mich gerade gefragt, ob ich nicht den Neon borgen könnte. Ich möchte nicht, dass meine Mutter die Meilen sieht, die ich gefahren bin.«
»Oje. Du willst Elliot nachspionieren, stimmt’s? Du wirst in der Kinghorn herumschnüffeln.«
»Ich gehe erst ein bisschen shoppen und dann was essen«, sagte ich und schob Kleiderbügel die Stange im Schrank hinunter. Dann zog ich ein langärmeliges Seiden-T-Shirt hervor, Jeans und eine rosa-weiß gestreifte Mütze, die ich für Frisurdebakeltage und Wochenenden reserviert hatte.
»Und bedeutet Essengehen vielleicht, dass du zu einem gewissen Restaurant in der Nähe von der Kinghorn gehst? Einem Restaurant, in dem Kjirsten Wie-hieß-sie-noch gearbeitet hat?«
»Du bringst mich da auf Ideen«, sagte ich. »Vielleicht sollte ich das wirklich tun.«
»Und wirst du da auch was essen oder nur die Angestellten ausfragen?«
»Es kann sein, dass ich ein paar Fragen stelle. Kriege ich den Neon oder nicht?«
»Natürlich kriegst du ihn. Wofür hat man eine beste Freundin? Ich komme sogar mit auf diesen schicksalhaften kleinen Ausflug. Aber erst musst du mir versprechen, mit zum Zelten zu kommen.«
»Vergiss es. Ich nehme den Bus.«
»Wir reden später über die Osterferien!«, rief Vee noch in den Hörer, bevor ich auflegen konnte.
Ich war schon öfter in Portland gewesen, aber ich kannte die Stadt nicht gut. Als ich aus dem Bus stieg, war ich mit meinem Handy, einem Stadtplan und meinem inneren Kompass bewaffnet. Die hohen, schmalen Gebäude waren aus rotem Backstein errichtet und verdeckten die untergehende Sonne, die nur hin und wieder hervorblitzte. Ansonsten lagen die Straßen unter einer dicken Schicht aus Sturmwolken, die einen Baldachin aus Schatten über die Stadt legten. Vor allen Schaufenstern befanden sich Veranden, und malerische Schilder hingen über den Türen. Die Straßen wurden von Straßenlampen erleuchtet, die aussahen wie Hexenhüte. Mehrere Blocks später öffneten sich die überfüllten Straßen zu einem Waldgebiet hin, und ich sah ein Schild zur Kinghorn Prep. Eine Kirche mit Kirchturm und Glockenturm ragte über den Baumwipfeln auf.
Ich blieb auf dem Gehweg und umrundete die Ecke zur 32. Straße. Der Hafen war nur ein paar Blocks entfernt, und ich konnte ab und zu Schiffe ausmachen, die beim Andocken hinter den Läden vorbeifuhren. Als ich die 32. Straße zur Hälfte hinuntergegangen war, sah ich das Schild von Blind Joe’s Restaurant. Ich zog meine Befragungsnotizen hervor und überflog sie ein letztes Mal. Der Plan war, nicht so auszusehen, als würde ich eine offizielle Befragung durchführen. Ich hoffte, dass, wenn ich Kjirsten nach und nach bei den Angestellten zur Sprache brachte, ich vielleicht etwas erfahren könnte, das all den Reportern vor mir entgangen war. In der Hoffnung, dass ich mich an meine Fragen erinnern würde, warf ich die Liste in den nächsten Mülleimer.
Die Tür quietschte, als ich eintrat.
Der Boden war gelb und weiß gekachelt, und die Nischen
waren meerblau gepolstert. Hafenbilder hingen an den Wänden. Ich setzte mich in eine Nische dicht an der Tür und schälte mich aus meinem Mantel.
Eine Kellnerin in einer fleckigen weißen Schürze tauchte neben mir auf.
»Ich heiße Whitney«, sagte sie missgelaunt. »Herzlich willkommen im Blind Joe’s. Das Tagesgericht ist Thunfischsandwich. Tagessuppe Hummercreme.« Mit gezücktem Stift wartete sie auf meine Bestellung.
»Blind Joe’s?« Ich runzelte die Stirn. »Warum kommt mir der Name so bekannt vor?«
»Lesen Sie keine Zeitung? Letzten Monat waren wir eine ganze Woche lang in den Nachrichten. In den Kurznachrichten und in allen anderen.«
»Oh!«, sagte ich, als ginge mir plötzlich ein Licht auf. »Jetzt erinnere ich mich. Da gab es einen Mord, richtig? Hat das Mädchen nicht hier gearbeitet?«
»Das war Kjirsten Halverson.« Sie klickte ungeduldig mit ihrem Stift. »Soll ich Ihnen erst mal einen Teller von der Cremesuppe bringen?«
Ich wollte keine Hummercreme. Eigentlich war ich überhaupt nicht hungrig. »Das muss schwer gewesen sein. Waren Sie mit ihr befreundet?«
»Verdammt, nein. Bestellen Sie jetzt, oder was? Ich verrate Ihnen mal ein kleines Geheimnis. Wenn ich nicht arbeite, dann verdiene ich nichts. Wenn ich nichts
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