Engel der Schatten - 04 -Kerri van Arden
Angst, dass sie ihm etwas antun könnte – oder dass er sich für sie entschied und ich ihn verlieren würde.
„Können wir sie aufhalten?“
„Ja, Mister Brighton. Aufhalten schon, aber wir können ihr niemals entrinnen“, erklärte Mrs Evergreen und hob dabei beschwörend den Zeigefinger.
„Warum kann man dieser Chassedy nicht entkommen?“, fragte ich völlig verwirrt.
„Weil sie der Tod ist“, flüsterte Mrs Evergreen und guckte mich lange und durchdringend an. Von Panik ergriffen sprang ich auf. „Sie machen mir Angst“, herrschte ich sie an.
„So ist das nun mal, Kindchen, jeder muss irgendwann sterben.“
„Ich will mir das nicht länger anhören. Komm Josh, wir gehen, die Alte ist ja
verrückt.“
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Kerri van Arden
Chassedy
Ich griff nach seiner Hand und wollte ihn aus dem Lokal zerren, doch die betagte
Dame hielt Josh am Arm zurück.
„Warten Sie, Mr. Brighton. Bevor Sie gehen, nehmen Sie das.“ Mit zittriger Hand reichte sie ihm einen unsauber gefalteten Zettel herüber.
„Was ist das?“
„Meine Adresse, junger Mann. Wenn Sie mich noch einmal sprechen wollen, so wissen Sie nun, wo Sie mich finden können.“
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Kerri van Arden
Chassedy
Chassedy:
Sie sah schwächlich aus, als sie die Tür ihres kleinen Apartments öffnete und in den Flur hinkte. Noch schwächlicher als vor einem halben Jahr, als ich sie schon hätte holen sollen. Nach meinem missglückten Versuch, sie mit mir zu nehmen, hatte ich ihr Zeit versprochen, damit sie ihre Angelegenheiten erledigen konnte. Es war ein Deal aus Dankbarkeit, denn ohne sie hätte ich Josh nicht auf diese Weise kennen gelernt.
Zu meiner Verwunderung schien sie über unser Wiedersehen nicht sonderlich überrascht. Ich saß in ihrem Sessel, hatte die Beine gemütlich übereinander geschlagen und fixierte sie mit meinem kalten Blick. Ehrfurcht spiegelte sich in ihren alten Augen, doch keine Angst.
Sie schien zu spüren, dass ich es wusste. Sie hatte es meinem Liebsten verraten. Er wusste, wer ich war, und seine kleine Freundin wusste es auch.
„Ist das nicht schrecklich langweilig – wie lange machst du diese Arbeit schon?“, fragte die Greisin. Noch immer zeigte sie keine Spur von Angst. Wie die meisten alten Menschen, die ich getroffen hatte, stand auch sie dem Tod ohne Furcht gegenüber. Das machte sie sympathisch. Ich musste mir eingestehen, dass ich Mrs. Evergreen mochte. Unsere Gespräche würden mir gewiss fehlen.
„Seit Anbeginn der Zeit“, sagte ich schlicht. „Und ja, es kann recht ermüdend sein.“
„Das glaube ich dir, Chass, das glaube ich dir! Was mag das für ein furchtbares Gefühl sein, wenn man kleine Kinder, junge Leute oder alte Menschen in den Tod führen muss.“
Mrs. Evergreen hatte doch keine Ahnung! Die Seelen der Toten gingen auf Reisen und begannen neue Leben. Es war ein ewiger Kreislauf, der ohne mich nicht funktionierte.
„Du wirst es genießen, tot zu sein, alte Frau“, sagte ich mit einer Spur Boshaftigkeit in der Stimme. „Aber deswegen will ich nicht mit dir sprechen.“
„Es geht um den jungen Mann, habe ich Recht?“ Dass ihr Gesicht einen amüsierten Ausdruck annahm, machte mich rasend. Aber dann wurde Mrs. Evergreen wieder ernst.
„Lass ihn in Ruhe leben, Chass.“
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„Es ist rührend, wie du dich um ihn sorgst. Aber tröste dich, ihn ins Totenreich
mitzunehmen hätte wenig Sinn.“ Seelen konnten nicht für lange Zeit an mein Reich gebunden werden. Sie waren immer in Bewegung.
„Das meine ich nicht. Er ist glücklich mit diesem Mädchen.“
„Woher willst du das wissen?“, schnaubte ich verächtlich.
„Ich habe es in seinen Augen gesehen.“
Zorn stieg in mir hoch, doch es gelang mir, ihn zu unterdrücken und mich zu beherrschen.
„Das wollen wir doch mal sehen“, zischte ich. „Er wird zu mir zurückfinden, dafür werde ich sorgen.“
„In Gefühlsangelegenheiten musst du noch viel lernen“, sagte sie plötzlich müde. Unser Disput hatte sie mehr erschöpft, als ich erwartet hatte.
„Viel Leben ist nicht mehr in diesen alten Gliedern. Am liebsten wäre es mir, im Schlaf zu sterben, Chass.“ Sie sah mich bittend an.
Ich verstand.
„Schlaf ist, was du jetzt brauchst. Ich komme wieder.“
„Ich weiß.“
Ich half ihr ins Bett und knipste das Licht aus. Ich ließ sie in dem Glauben, ich würde sie verlassen, doch in Wirklichkeit wartete ich, bis sie eingeschlafen war.
Nun lag sie da, und ich wusste, es gab keinen besseren
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