Engel der Schatten - 04 -Kerri van Arden
verbarg er hinter einer geschmacklosen Brille. Aber ich war nicht die Person, die sich etwas aus Äußerlichkeiten machte.
Je öfter ich ihn besuchte, desto besser lernte ich ihn kennen und ich erkannte, was für ein liebenswerter und zärtlicher Mensch er war. Wenn er abends nach Hause kam, spielte er stets mit Joey oder kümmerte sich um seine Pflanzen, mit denen er sogar ab und an sprach. Ich fand es amüsant, wie sorgfältig er seine Kleidung im Schrank ablegte und sie nach einem kompliziertem System ordnete – oder wie übertrieben sauber er seine kleine Wohnung hielt, stets wissend, wie unnötig es eigentlich war, da er sowieso nie Besuch bekam. Ich erlebte glückliche und traurige Tage in seinem Leben, wobei die traurigen wohl überwogen. Er war einsam. Er hatte keine Frau. Keine Freundin. Niemanden, außer den auf ihren eigenen Vorteil bedachten Kollegen. Ich beobachtete ihn, wenn er zur Arbeit ging. Ich sah, wie er der niedlichen Sekretärin
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Kerri van Arden
Chassedy
nachblickte. Er liebte sie, doch er traute sich nicht, ihr das zu gestehen – er war viel zu
schüchtern. Und sie... sie schien unerreichbar für ihn.
An einem kalten Winterabend entschied ich mich, ihm zu helfen. Es war eine jener Nächte, kurz vor Heilig Abend, in denen er einsam auf dem Balkon saß und sich die Stadt bei Nacht ansah. Erneut würde er Weihnachten allein sein. Niemand da, mit dem er feiern konnte. Ich spürte seine Verzweiflung, seine Einsamkeit. Er hatte getrunken und wie so oft fürchtete ich, dass er sich etwas antun würde, obwohl seine Zeit noch längst nicht abgelaufen war.
An diesem Abend spürte ich, es war der rechte Augenblick, sich ihm zu offenbaren...
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Chassedy
Joshua:
Es war kurz vor Weihnachten. Ich hatte ein, zwei Gläser zu viel getrunken, blickte hinaus und genoss den Anblick der nächtlichen Stadt. So viele Menschen leben in dieser Metropole, ging es mir durch den Kopf, und doch ist es möglich, unter ihnen zu vereinsamen.
„Setz diesem Dasein ein Ende“, dachte ich. Doch ich sprang nicht, ich hatte zu viel Angst vor dem Tod.
„Du bist betrunken“, erinnerte ich mich selbst, während mein Blick zu den dunklen Häusern mit ihren quadratischen, erleuchteten Fenstern hinauswanderte.
In jener schicksalhaften Nacht sollte ich Chassedy das zweite Mal begegnen.
Nichts ahnend stand ich auf meinem Balkon, gab mich ganz meinen Suizidgedanken hin, als es unverhofft und für diese Uhrzeit noch dazu völlig überraschend an meiner Tür klingelte.
Es klingelte? Bei mir? Ich musste erst meine Gedanken ordnen. Wer um alles in der Welt sollte mich denn jetzt besuchen wollen? Ich würde einfach nicht aufmachen. Wer immer das war, sollte morgen wiederkommen. Ich war jetzt einfach nicht in der Stimmung. Ich wollte allein sein.
Mein unbekannter Besucher schien nicht aufzugeben und klingelte unbeirrt weiter. Das penetrante schrille Klingelgeräusch fing an, mich zu nerven. Also raffte ich mich auf und stolperte zur Tür, um meinen aufdringlichen Besucher in Empfang zu nehmen. Kaum hatte ich geöffnet, blieb mir die Luft im Halse stecken und mein Herz begann vor Aufregung wild zu pochen... vor der Tür stand eine junge Frau, die mich aufreizend anlächelte.
„Das kommt vom Alkohol“, erklärte ich mir das augenscheinliche Trugbild und kniff die Lider zusammen. „Wenn ich die Augen jetzt wieder öffne“, dachte ich, „dann ist die Frau verschwunden. Sie ist nur Einbildung!“
Ich sollte eines Besseren belehrt werden, denn die Dame stand noch immer lässig an den Türrahmen gelehnt und schmunzelte mich an.
„Darf ich hereinkommen?“, fragte sie und betrat meine Wohnung, ohne eine Antwort abzuwarten.
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Chassedy
Irgendwie kam sie mir bekannt vor, ich wusste allerdings nicht, wo ich sie schon
einmal gesehen hatte. Sie war größer als ich, was mich nicht wirklich verwunderte, sehr schlank und hatte lange blonde Haare. Mit Erstaunen bemerkte ich, wie gut sie sich in meiner Wohnung auszukennen schien. Zielstrebig lief sie in meine Küche. Ich folgte ihr verdutzt und sah, wie sie zwei Gläser aus dem Schrank nahm und Rotwein einschenkte.
„Wer sind Sie?“, stammelte ich.
„Ich bin Chassedy“, antwortete sie schlicht.
„Chassedy? Was wollen Sie?“
Chassedy kam auf mich zu, reichte mir ein Glas und flüsterte mit einer nicht gerade unerotischen Stimme: „Ich will dich glücklich machen, Joshua.“
Woher kannte sie meinen Namen? Mit nur einem Schluck trank
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