Engel des Todes
auf und trat ein.
Das Zimmer 623 war ein repräsentativer Raum, wie es ihn in jedem guten amerikanischen Unternehmen gibt. Im Geschäftsleben würde die Botschaft lauten: »Sehen Sie her – wir können uns das Beste aus dem Katalog leisten. Wir haben keine Angst vor Ihnen.« Was es in der Strafverfolgung bedeuten sollte, war Nina schleierhaft. In der Mitte des Raumes prangte ein großer, auf Hochglanz polierter Tisch aus rötlichem Holz, daneben standen die im ganzen Gebäude teuersten und am wenigsten benutzten Sessel. Die Wand mit den Fenstern ging auf den rückwärtigen Parkplatz, die übrigen Wände waren bis auf Hüfthöhe paneeliert. An einer hing ein Foto in einem schlichten Rahmen, auf dem jemandem eine Ehrenurkunde überreicht wurde. Sonst war alles kahl.
In einem Sessel, der leicht abgerückt an einer Ecke des Tisches stand, saß ein Mann in einem anthrazitgrauen Anzug. Er schien überdurchschnittlich groß und hatte ein hartes Gesicht, das bei Männern eines gewissen Alters aussieht, wie wenn es in Plexiglas gegossen wäre. Er hatte akkurat geschnittenes Haar, blassblaue Augen und lange Wimpern. Er trug keine Krawatte, aber alles an seinem Hemd sagte, dass er das nicht nötig hatte. Er mochte Mitte fünfzig sein. Obwohl er nach allen gängigen ästhetischen Gesichtspunkten hergerichtet war, hatte Nina den Eindruck, noch nie eine so konturlose Erscheinung gesehen zu haben. Er hätte durchaus ein FBI -Agent sein können, aber er war keiner. Mit Sicherheit war er nicht der zuständige FBI -Mann aus Portland, von dem am Telefon die Rede gewesen war.
»Guten Morgen«, sagte sie und streckte die Hand zum Gruß aus.
Er reichte ihr nicht die Hand. Auch stellte er sich nicht selbst vor und lächelte nicht. Nina hielt ihre Hand ein paar Sekunden in der Luft, dann ließ sie sie sinken. Sie wartete noch einen Augenblick, um dem anderen Gelegenheit zu geben, seine Arschmaske abzusetzen. Er tat es nicht. Sie blickte ihm lange und fest in die Augen und schaute dann weg.
Diese Machtspielchen machten ihr keine Angst. »Wie Sie wollen.«
»Setzen Sie sich und seien Sie still«, fauchte Monroe. »Sie sind hier, um zuzuhören. Man wird Ihnen eine klare Frage stellen, und Sie sind gehalten zu antworten. Und keine sonstigen Bemerkungen. Haben Sie mich verstanden?«
Spätestens jetzt wusste Nina, dass irgendetwas schiefgelaufen war. Monroe hatte sicherlich seine Fehler. Er hatte die Tendenz, sich für klüger zu halten, als er war, und glaubte, mit Methoden, wie sie gegenüber Handelsvertretern üblich waren, auch Verbrecher – und FBI -Mitarbeiter – einschüchtern zu können. Vor allem war er ein Profi, aber nun klangen Zorn und Verärgerung aus seiner Stimme.
Er starrte sie immer noch an. »Verstanden?«
»Gewiss doch«, sagte sie und hielt abwehrend die Hände hoch. »Worum geht …«
»Der Fall Sarah Becker«, antwortete er knapp. Ninas Mut sank noch mehr. Zwar wollte sie gerade in diesem Zusammenhang mit ihm reden, aber nicht auf diese Weise. Nicht in Gegenwart anderer und schon gar nicht dieses Ekels dort in der Ecke. Warum setzte der sich nicht an die eine oder die andere Seite des Tisches? So massiv präsent, wie er war, hatte er sich doch nicht vorgestellt. Es war so, als ob ein Geist in der Ecke säße, den nur sie sehen konnte.
»Gut«, sagte sie. Monroe öffnete seine Mappe. Er hatte ein Blatt Papier mit Aufzeichnungen vor sich, doch nahm er darauf nicht Bezug.
»Mr. und Mrs. Becker behaupten, ihre Tochter habe einfach wieder vor ihrer Haustür gestanden«, berichtete er. »Nachdem sie eine Woche lang verschwunden war, soll sie plötzlich wieder nach Hause gekommen sein. Das Mädchens sagt, man habe sie unweit des Ortes der Entführung freigelassen, das sei in Santa Monica gewesen. Von dort sei sie zu Fuß nach Hause gegangen. Eine Nachbarin will aber beobachtet haben, wie das Mädchen von einem Mann und einer Frau zur Haustür der Beckers gebracht worden sei, während ein anderer Mann in einem Auto auf der Straßenseite gegenüber auf sie gewartet habe. Bei der Zeugin handelt es sich um eine ältere Dame, für deren Aussage ich mich nicht verbürgen würde, aber wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass ein Mädchen, das nach Alter und Beschreibung Sarah sein könnte, am Abend zuvor in die Notaufnahme eines Krankenhauses in Salt Lake City eingeliefert wurde. Zur gleichen Zeit kam auch eine Frau mit einer Schusswunde in der rechten oberen Schulter in dieses Krankenhaus. Beide Patientinnen
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