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Engel des Todes

Engel des Todes

Titel: Engel des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marshall
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Schrei heran wie das Zischen einer Dampfmaschine, die irgendwo in einer dunklen Kellerecke vergessen worden war. Auch den folgenden Tag brachte man hinter sich, und noch viele andere würden sich wie Gestein übereinanderlagern. Am Ende stand die Erkenntnis, dass es gar kein Morgen war, das da auf einen wartete, sondern nur die Fortsetzung eines endlosen Heute. Was konnte man dagegen tun? Aufbegehren führte zu nichts. Wer das Rauchen aufgibt und dann merkt, es wird einem plötzlich zu viel und die Chance, morgen nicht zu rauchen, ist kein ausreichender Lohn für die Anstrengung, heute erfolgreich nicht geraucht zu haben, der kann wütend in den nächsten Tabakladen rennen, eine Packung Zigaretten kaufen, sie aufreißen und lospaffen und dabei einen Gefühlstumult aus Glück und Enttäuschung, Rebellion und Schuld empfinden. Aber mit dem Tod ist solch ein triumphierendes Sich-gehen-Lassen nicht möglich. Man kann nicht zu ihm sagen: »Lass den Scheiß, bring mir meinen Mann oder meine Frau wieder.« Die Menschen ahnen das dunkel. Sie lassen es nicht wirklich darauf ankommen, denn sie wissen, wer diesen Wunsch ausspräche und eine Abfuhr erhielte, der würde einfach durchdrehen. Sie kommen zu der schmerzlichen Einsicht, dass kein Ausweg vorhanden ist, dass sie keine Notausgabe ihres geliebten Partners finden können. Sie werden ihn nicht vom Küchenschrank oder hinter dem Bad hervorholen, abstauben, ihm mit den Fingern durchs Haar fahren und einen Kuss auf die Lippen drücken, um ihn aufzuwecken, so als ob alles nur ein böser Traum oder ein dummer Einfall gewesen wäre.
    Ein Leben lang hatte Patrice in ihrem Denken und Handeln immer Anstand gewahrt, aber nun reizte sie das Ungehörige. Sie schaute Leuten zu, die die Gassen zwischen den Marktständen verstopften, wunderlich gewordene Alte, die allen peinlich waren. Noch vor einem halben Jahr hätte sie sich gefragt, was diese Menschen so unglücklich gemacht hatte und ob sie ihnen helfen könnte. Jetzt hielt sie es nur für ungerecht, dass sie noch am Leben waren. Wenn sie im Fernsehen von Spendenaufrufen für Kinderkrankenhäuser hörte, fragte sie sich, warum die Leute bei Kindern immer gleich rührselig werden, obwohl die doch kaum etwas für die Welt getan hatten, während jemand wie Bill so viel länger Zeit gehabt hatte, für einen anderen Menschen Teil des Lebens zu werden. Für sie zum Beispiel. Als ihr in Snohomish ein Junge auf der Straße eine Aids-Schleife aufschwatzen wollte, giftete sie ihn an und stieß ihn zur Seite. Der Junge wandte sich daraufhin an seine Mitstreiterin, einen auffallend hübschen Teenager, der das Mitgefühl aus den Knopflöchern troff, und machte eine Bemerkung.
    Patrice sah ihn scharf an. »Suchst du dir bei der Aids-Hilfe was zum Bumsen?«
    Der Junge, ein sanftäugiger, gut aussehender Kerl, errötete. Auch Patrice war rot vor Selbstverachtung, als sie bei ihrem Auto ankam, aber eine Stimme in ihr geiferte immer noch.
    Nach ein paar Monaten sah es eine Weile so aus, als ob es etwas besser würde, als ob sie sich im Kopf auf die neuen Verhältnisse eingestellt hätte. Doch das war nur die Ruhe vor dem Sturm gewesen. Sie kam gefährlich ins Rutschen. Mit jedem Tag wurde es schlimmer, und ein Ende war nicht abzusehen.
    Dann, in einer langen Dezembernacht, als das erste Weihnachten ohne ihn immer näher rückte, explodierte etwas in ihrem Kopf. Sie besaß eine CD mit seinen Lieblingsmusiktiteln. Er hatte in seinem Testament verfügt, sie bei seiner Beerdigung in Portland zu spielen. Neben Liedern war auch klassische Musik darunter, Stücke, die sie nie gehört hatte, die ihm aber offenbar in einem verborgenen Winkel seines Herzens wichtig waren. Sie reichten zurück in die Zeit, als sie noch nicht zusammen waren. Seit dem Tag der Beerdigung hatte sie die Musik nicht mehr gehört. Als in der bewussten Dezembernacht die letzten Töne verklungen waren, wusste sie, dass damit auch das Ende alles Neuen, das Ende jeder Entwicklung, das Ende von allem gekommen war. Sie legte die CD ein zweites Mal auf und hörte sie von vorn bis hinten an. Dann fand sie eine volle Flasche Scotch, die noch von Bill stammte, und trank sie leer. So etwas oder auch nur etwas Ähnliches hatte sie in ihrem ganzen bisherigen Leben nicht getan.
    Um Mitternacht irrte sie barfuß, das Haar von einem eisigen Wind gepeitscht, draußen zwischen den Bäumen umher und spürte doch fast gar nichts. Sie hatte geredet, geschrien, geknurrt und geweint. Sie war heiser, und der

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