Engel des Todes
hat er angerufen und jedes Mal nur ›Rufen Sie zurück‹ gesagt.«
»Dann ruf ihn an. Aber nicht in seinem Büro. Auf seinem Handy.«
»Wenn er nachprüfen lässt, von wo der Anruf gekommen ist, weiß er in Kürze, wo wir sind.«
»Dann weiß er nur, wo wir waren. Los, ruf ihn an.«
Sie tastete die Nummer ein und schaute mich an, während die Verbindung aufgebaut wurde. Dann: »Charles? Hier ist Nina.«
Aus zwei Meter Entfernung vernahm ich den Redeschwall, der sofort aus dem Telefon sprudelte. Nina hörte schweigend zu.
»Was sagen Sie da … O Gott. Charles, ich rufe Sie zurück.«
Sie unterbrach die Verbindung. Einen Augenblick schien sie sprachlos.
»Was ist denn passiert?«
»Man hat noch eine Frau mit einer Festplatte gefunden.«
Um halb sechs wurde es allmählich dunkel, und wir saßen im Auto, das ungefähr fünfzig Meter von einem Diner namens Daley Bread parkte. Wir waren hier, weil mir das Lokal schon bei unserer Ankunft in der Stadt vergangene Nacht aufgefallen war. Ein großer, anonymer Schuppen gleich an einer Ausfallstraße unweit des Highway 99 , dahinter der Weg nach Norden oder Süden offen. Leicht zu finden und leicht wieder zu verlassen. Wir waren schon früh dort, weil wir wissen wollten, ob vielleicht ein Beamter in Zivil die Gegend inspizierte oder die hiesige Polizei eingeschaltet worden war oder das FBI … Kurz, wir wollten wissen, ob man Monroe auch nur ein wenig trauen konnte.
Im Verlauf einer halben Stunde sahen wir lediglich ein paar kümmerliche Gestalten mit schäbigen Decken auf den Schultern vorbeihuschen, daneben tauchte grüppchenweise auch der Nachwuchs der Wohlbetuchten auf. Zwischen den beiden Erscheinungen gab es keinen Zusammenhang, und es fiel schwer sich vorzustellen, dass sie Teile desselben Raums bewohnten, schienen sie doch wie zwei ganz verschiedene biologische Arten zu sein, die zufällig eine gewisse Ähnlichkeit aufwiesen. Wir beobachteten das Kommen und Gehen dieser Leute, von denen manche in unser Auto schauten und sich sicherlich fragten, warum ein Paar an einem kalten, dunklen Abend hier wartete. Wir erwiderten ihre Blicke. Wir waren beide schon in hohem Grade paranoid. Wenn keine Passanten zu sehen waren, schauten wir die Straße hinauf und hinunter.
Um Viertel nach sechs, eine Viertelstunde vor dem verabredeten Treffen, machte ich die Wagentür auf und stieg aus.
»Sei vorsichtig«, sagte sie.
»Keine Sorge. Er weiß ja nicht, wie ich aussehe.«
»Nein. Aber andere wissen es.«
Ich ging die Straße gelassenen Schrittes hinauf und versuchte meinen Platz zwischen dem Abschaum und der gestylten Jugend zu finden. Dann wartete ich eine Weile auf der gegenüberliegenden Seite des Diners, sah aber niemand, der von ferne einem Gesetzeshüter ähnelte. Auch im Lokal befanden sich nur wenige Gäste.
Ich überquerte schon die Straße, als mir einfiel, dass jeder mit nur ein bisschen Grütze im Kopf den Ort des Treffens so lange zurückgehalten hätte, bis Monroe tatsächlich in der Stadt war. Damit wäre es für ihn schwieriger gewesen, die hiesige Polizei zu mobilisieren, sofern er das vorgehabt hätte. Mehr denn je wünschte ich mir, Bobby wäre noch da. Oder meine Mutter. Ohne die beiden überfiel mich immer das Gefühl, keine Rückendeckung zu haben.
Leise und ohne die Lippen zu bewegen stellte ich eine Frage.
»Ist das hier eine Schnapsidee gewesen?« Darauf gab es keine Antwort.
Im Restaurant war es wärmer und ein bisschen stickig. Eine müde aussehende Kellnerin in Uniform steuerte sogleich mit einer Speisekarte auf mich zu. »Ich bin Britnee«, stellte sie sich ganz unnötigerweise vor – sie hatte ein tellergroßes Namensschild auf der Brust. »Essen Sie allein zu Abend?«
Ich bestätigte das und hatte schon einen ganz bestimmten Platz im Auge, nämlich in einer der Sitzgruppen, die in Reihen die Saalmitte flankierten. Da im ganzen Diner nur zwei Paare saßen, konnte die Kellnerin mir den Platz meiner Wahl eigentlich nicht abschlagen.
Ich bestellte Chili con carne, ohne überhaupt auf die Karte zu schauen. Während sie loszog, um den Koch zu wecken, setzte ich mich so, wie ich es mit Nina abgesprochen hatte: an der rechten Seite der Sitzgruppe und mit dem Rücken zur niedrigen Wand, die sie von der nächsten Sitzgruppe trennte. Den Tisch konnte man von nebenan nicht sehen, aber ich wäre in der Lage, alles mitzuhören.
Ich nahm eine Gratiszeitschrift in die Hand, die ich aus der Hotelhalle mitgebracht hatte, senkte den Kopf und
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