Engel des Todes
heißen?«
Er zuckte die Achseln. Er hatte alles gesagt, was er sagen wollte.
»Was hast du als Nächstes vor?«
»Ich suche mir erst einmal ein Hotel.«
»Das hier ist nicht schlecht.« Im gleichen Augenblick spürte ich, dass ich das lieber nicht hätte sagen sollen.
Er lächelte nur. »Zu teuer für Leute wie mich, Ward.«
Ich machte es noch schlimmer: »Soll ich dir etwas vorstrecken?«
»Du willst mir etwas vorstrecken? Ich dachte, du wärst abgebrannt?«
»John, warum spielst du jetzt das Ekel?«
Er stand auf und legte einen Zehndollarschein auf den Tisch. »Weil man viel mehr tun muss, wenn man gegen sie vorgehen will«, gab er zur Antwort.
Er verließ den Raum und ging draußen die Straße hinauf, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich schaute ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war, dann ging ich auf mein Zimmer und packte.
12
E s war kurz nach sechs Uhr abends. Tom stand gerade auf dem Balkon, der die gesamte Front des zweistöckigen L-förmigen Motels umlief, als ein Auto auf den Parkplatz fuhr. Ihm ging es einerseits viel besser, andererseits aber auch schlechter. Die Polizeiwache verlassen zu können, hatte ihm gutgetan. Auch der Kleiderwechsel. Der Deputy hatte große Geduld gezeigt, während Tom neue Jeans, eine Fleecejacke und das gesamte Unterzeug aussuchte. Alles, was er vor seiner Auszeit sein Eigen genannt hatte, lag im Kofferraum des Mietwagens, der unten auf dem Parkplatz stand.
Er hatte ausgiebig warm geduscht und es sich dann im einzigen Sessel des Zimmers gemütlich gemacht. Danach fühlte er sich so weit hergestellt, um wieder auf Nahrungssuche gehen zu können. Seine alte Kleidung lag im Rucksack verstaut, die neue war auf sein Zimmer gebracht worden. Obwohl er die zerrissenen alten Sachen wohl kaum noch einmal tragen konnte, fühlte er sich doch auf merkwürdige Weise mit ihnen verbunden. Aus Aberglauben bewahrte er jede Brieftasche und jede Geldbörse, die er je besessen hatte, weiterhin zu Hause auf, er traute den unbelebten Dingen eine magische Kraft zu. Wer weiß, was ohne die alte Kleidung geschehen würde.
Obwohl er es sich selbst nicht eingestanden hätte, gab es noch einen anderen Grund. Die zerrissene Kleidung war sein Zeuge. Sie war dabei gewesen. Sie wusste, was er gesehen, was er gefühlt hatte. Während seiner verzweifelten Suche noch dem Weg zurück in die Zivilisation hatte ihn ein Gedanke nicht verlassen: Nicht nur, dass er am Leben bleiben wollte, er wusste nun auch, warum. Er hatte eine Botschaft zu überbringen.
Diese Gewissheit war nicht verloren gegangen.
Er glaubte immer noch an das, was er gesehen oder gespürt hatte. Dass ihm das keiner abnahm, war sicher. Die Haltung des Sheriffs ließ darüber keinen Zweifel, und sein Deputy richtete sich nach ihm. Die Viertelstunde, die Tom in dem Bekleidungsgeschäft gegenüber vom Marktplatz verbracht hatte, war sehr aufschlussreich für ihn gewesen, denn nun wusste er, wie rasch sich Neuigkeiten hier verbreiteten. Er hatte sich schon halb gedacht, dass es alle wussten, warum sonst wäre diese Frau namens Patrice in die Polizeiwache gekommen, um ihre fatale Aussage zu machen (später hatte sie sich wortreich bei ihm entschuldigt, was die Sache nur noch schlimmer gemacht hatte). Als Tom seine Kreditkarte zur Bezahlung der Einkäufe reichte, war ihm klar, dass jeder hier wusste – oder zu wissen meinte –, dass er ein Spinner war.
Vor ein paar Tagen hat er sich abends in Frank’s Bar die Hucke voll gesoffen. Anschließend wollte er sich draußen im Wald umbringen, aber nicht auf die männliche Art mit einer Knarre, nein, mit Schlaftabletten. Hat das Bewusstsein verloren. Glaubte, irgendwas gesehen zu haben. Dann war er zwei Tage in der Wildnis verschwunden. Komische Geschichte!
Komisch oder traurig. Die junge Frau an der Kasse sprach nichts davon aus, aber ihr sehr, sehr freundliches Lächeln sagte alles. Der Mann an der Rezeption des Motels vermied Augenkontakt mit ihm, aber ganz am Schluss zeigte auch er dieses schiefe Lächeln. Tom begriff sofort. Er galt mehr oder weniger als Witzfigur und bald wohl als noch Schlimmeres. Wenn Connelly seine Erkenntnisse über Toms Vergangenheit nicht für sich behielt, würde das freundliche Lächeln verschwinden. Und dabei wusste Connelly noch gar nicht die ganze Wahrheit.
Eine Zeit lang hatte er im Sessel sitzend das Telefon angestarrt und sich gefragt, ob er zu Hause anrufen sollte. Der letzte Anruf war jetzt drei oder vier Tage her. Er erinnerte sich nicht mehr, ob
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