Engel im Schacht
Gantner mich in sein Büro gelassen hatte. Wegen Deirdre? Oder wegen Home Free? Und was steckte hinter Jad Holdings, daß er so heftig darauf reagierte? Am liebsten hätte ich mich als Dünger verkleidet, um die Maisgesellschaft unbemerkt inspizieren zu können.
Eine Nadel im Maisspeicher
Als ich die äußersten Ausläufer der First Avenue und damit die Stadtgrenze erreichte, sah ich Chicago einen Augenblick lang mit den Augen einer Fremden. Verglichen mit den riesigen Einkaufszentren und breiten Straßen, die ich gerade hinter mir gelassen hatte, wirkte die Stadt heruntergekommen, überflüssig.
Ich hatte vor, den Tag durch ein Gespräch mit Donald Blakely, dem dritten Musketier, abzurunden, aber es war bereits halb sechs, als ich unter dem Hauptpostamt durchfuhr. Hoffnungsvoll parkte ich vor der Gateway Bank. Der Wachmann im Foyer sagte mir, Mr. Blakely und Ms. Guziak seien bereits nach Hause gegangen - sogar hart arbeitende Manager strichen am Freitag pünktlich die Segel. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig zu meinem Wagen, bevor eine Politesse mir einen Strafzettel verpassen konnte. Glück gehabt - sah fast so aus, als ob sich das Blatt wendete. Wäre Tish doch nicht so kratzbürstig gewesen - ich hätte so gern erfahren, wieso man bei Home Free damals beschlossen hatte, den Obdachlosen die Unterkünfte nicht mehr direkt zu vermitteln. Außerdem hätte ich gern gewußt, ob Home Free jetzt, wo das Unternehmen sich nur noch mit dem Bau solcher Unterkünfte beschäftigte, tatsächlich effektiver arbeitete.
Gerade diese Bautätigkeit schien mir nicht ganz koscher. Die Projekte von Home Free konnten schließlich kein Geheimnis sein. Selbst in Chicago mußte man Baugenehmigungen beantragen.
Ich blieb vor dem Pulteney stehen. Vielleicht hatte Cyrus Lavalle, mein Spitzel im Rathaus, ja genau das herausgefunden: daß die drei Musketiere genügend Stadträte bestochen hatten, um keine Genehmigungen mehr beantragen zu müssen. Das hätte das Thema »Home Free« mit Sicherheit zu einer Geheimsache gemacht. Ich hämmerte auf das Lenkrad ein. Cyrus hatte seinen Rückzieher schon gemacht, bevor Lamia irgend etwas mit Home Free zu tun hatte. Für ihn war das Reizwort »Century Bank« gewesen. Und Eleanor war vor mir geflüchtet und hatte sofort ihr Mobiltelefon bemüht, als ich ihr gegenüber Lamia erwähnte, nicht Home Free. Heccomb führte etwas im Schilde, von dem Blakely und Gantner wußten. Und Phoebe vermutlich auch. Aber was konnte das mit Deirdre zu tun haben? Doch wenn es nichts mit ihr zu tun hatte, warum spannte dann Alec junior seinen mächtigen Daddy ein, um die Nachforschungen im Auge behalten zu können? Oder steckte dahinter Fabian? Gantner hatte in einem Punkt recht: Es ließ sich nur schwer eine Verbindung zwischen Home Free, Century Bank und dem Mord an Deirdre herstellen. Warum verschwendete ich dann meine Zeit mit Fragen darüber? Bestimmt nicht nur aus Sorge um Camilla oder aus Wut über Phoebe. Ein großer Teil davon war Neugierde, aber vieles hatte auch mit der alten Abneigung des Mädchens von der Straße gegen die Reichen und Mächtigen zu tun, die glaubten, mit mir Katz und Maus spielen zu können. Vergangene Woche hatte ich Phoebe erklärt, ich hätte keine Zeit für unbezahlte Nachforschungen. Das galt diese Woche immer noch - wieviel Arger konnte ich mir noch leisten? Vielleicht waren noch ein paar Fragen zu Jad Holdings drin. Ich stieg aus dem Wagen. Ein alter Mann in einem formlosen Mantel wühlte in einem Abfalleimer herum. Ich ging in den Coffee-Shop. Melba begrüßte mich wie eine alte Freundin, sagte aber, sie habe keine Spur von Emily gesehen.
»Ich hab' auch rumgefragt - das ist nicht der richtige Ort für junge Leute, um auf der Straße zu leben, jedenfalls nicht, wenn sie allein sind und sich nicht auskennen. Aber hier in der Gegend hat niemand was von ihnen gesehen.«
Ich ging noch einmal um das Pulteney herum, sah mir nicht nur die Vorder-, sondern auch die Rückseite an, konnte aber weder eine Spur von Emily noch von Tamar Hawkings entdecken. Es gab keinen Weg in das Gebäude. Wie war es Tamar gelungen, trotzdem hineinzukommen? War sie vielleicht durch die offene Tür hineingeschlüpft, als ich wieder mal am Sicherungskasten herumwerkelte? Ich rüttelte an einem Gitter in der Seitenstraße hinter dem Gebäude, aber es bewegte sich nicht. Auf der Vorderseite überprüfte ich die Klappen im Gehsteig, durch die früher die Warenlieferungen in die Keller geschoben wurden. Sie
Weitere Kostenlose Bücher