Engel im Schacht
und hatte jede Menge Sommersprossen, aber keinerlei Ähnlichkeit mit dem kräftigen Mann, den ich bei Jasper Heccomb gesehen hatte. Ich versuchte, ein besonders ernstes Gesicht zu machen, und verlangte Gary Charpentier.
»Er ist nicht hier.« Der Junge hatte den Stimmbruch noch nicht hinter sich und sprach in einem durchaus reizvollen, rauchigen Alt.
»Wo kann ich ihn finden? Ich muß unbedingt heute noch mit ihm sprechen.«
Der Junge biß sich auf die Lippe und verkündete, er würde seine Mutter holen. Dann verschwand er und rief: »Mom! Mo-o-om!«
Mrs. Charpentier war etwa in meinem Alter, doch ihre ehemals blonden Haare hatten sich in stumpfes Grau verwandelt. Trotz der Spuren der tagtäglichen Kleinkriege in der Familie auf ihrem Gesicht wirkte sie noch immer hübsch. Obwohl es noch so früh war, hatte sie offenbar begonnen, das Abendessen vorzubereiten, denn sie trocknete sich die Hände an einem Küchenhandtuch ab und roch ziemlich stark nach Zwiebeln. »Mrs. Charpentier? Ich komme von Alec Gantners Büro. Ich soll Gary Charpentier ein paar Unterlagen bringen.«
»Ach.« Sie sah ihren Sohn an, der hinter ihr stand. »Ist schon recht, Gary - ist was Geschäftliches für Dad. Ich kann die Sachen für ihn annehmen - er ist im Moment nicht da, aber so gegen fünf kommt er wieder.«
Ich zog die Flugblätter von Arcadia House, die ich ihr hingehalten hatte, wieder weg. »Tut mir leid, aber das ist zu spät: Es ist wichtig, daß er noch ein paar Dokumente unterzeichnet und uns zurückschickt. Aber am Samstag fährt der letzte Kurier um fünf. Mr. Gantner wird sicher ziemlich wütend sein, daß ich es nicht rechtzeitig geschafft habe.«
Sie biß sich auf die Lippe, ganz ähnlich wie ihr Sohn vorher. »Wenn Sie... Wenn die Sachen von Mr. Gantner sind... Er mag's nicht, wenn... «
»Es macht mir nichts aus, zu ihm zu fahren. Ist er in seinem Büro? Dort war ich vorher schon.«
»Nein. Nein, er ist in Chicago. Und er mag's überhaupt nicht, wenn Leute zu ihm auf die Baustelle kommen. Aber... wissen Sie was, ich versuche, ihn übers Autotelefon zu erreichen. Wie heißen Sie denn?«
»Gabriella Sestieri.« Als erstes kam mir der Name meiner Mutter in den Sinn. »Wenn Sie mir einfach die Adresse geben, kann ich dort vorbeifahren - ich muß mit den unterschriebenen Papieren sowieso noch einmal zum Loop zurück.« »Es ist besser, wenn ich vorher anrufe. Dann ist er vielleicht nicht ganz so wütend.« Sie hastete ans Telefon. Ich schwitzte - vor Ungeduld, Zorn und unangenehmer Angst. Ich fragte mich, ob ich der Frau ein Kärtchen mit der Notfallnummer von Arcadia House dalassen sollte. Wie zornig konnte Gary Charpentier wohl werden? Bei Jasper Heccomb war sein Gesicht vor Wut ganz rot angelaufen, wer weiß, wie er seiner Frau gegenüber reagierte?
Sie kam nach ein oder zwei Minuten zurück, um mir mitzuteilen, daß sie ihn nicht hatte erreichen können - er war nicht in seinem Auto. Nachdem ich ihr erklärt hatte, ich wisse, wie schwer es sei, es einem Mann recht zu machen, und sie daran erinnert hatte, wie wichtig Alec Gantner sei und daß es aufgrund seiner Verbindung mit Jasper Heccomb unklug von ihrem Mann wäre, diesen wichtigen Mann hängenzulassen, gab sie mir die Adresse einer Baustelle. Sie lag an der Eiston Avenue, etwas nördlich von der Stelle, wo die Pulaski Road einmündete.
Sie kämpft und läuft weg - und kriegt trotzdem eins auf den Deckel
Die Eiston Avenue führt diagonal durch die Northwest Side. Während der Rush-hour sind viele Autos dort unterwegs - sie verläuft parallel zum Kennedy Expressway -, zu anderen Zeiten ist die Gegend Niemandsland. Düstere Abschnitte, wo ehemals Lagerhäuser und Fabriken standen, wechseln sich mit nur wenigen Geschäften oder Restaurants ab, so daß die Anwohner der Umgebung kaum jemals in diese Straße kommen.
Charpentiers Baustelle lag verborgen hinter dem hohen Gras und den bröckelnden Wänden eines dieser trostlosen Häuserblocks. Ich fuhr zweimal daran vorbei, ohne irgend etwas zu entdecken, und suchte nach einer Hausnummer, die mir bestätigt hätte, daß ich mich in der richtigen Gegend befand.
Schließlich stellte ich den Wagen in der Cullom Street ab und erkundete das Viertel zu Fuß.
Erst als ich eine aufgerissene Asphaltfläche überquert hatte - die Überreste eines Parkplatzes -, merkte ich, daß hier überhaupt gebaut wurde. Keine Schilder verkündeten der Welt, daß Charpentier hier tätig war und daß es möglicherweise gefährlich sein
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