Engel im Schacht
ich Mitleid mit ihr.
»Warum bist du hergekommen, Deirdre? Was hast du dir von mir erhofft?« Ihr Gesichtsausdruck blieb undurchdringlich. Ich hatte das Unverzeihliche getan - ich hatte zwei unaussprechliche Worte im Zusammenhang mit ihrem Mann gesagt, und das auch noch voller Verachtung. Wie so oft, wenn ich nervös bin oder verlegen, fing ich an, zu viel zu reden. Ich erzählte ihr, wie ich Tamar Hawkings' Kinder am Dienstagabend ins Krankenhaus gebracht und wie Tamar mit ihnen am Mittwochmorgen verschwunden war.
»Und die Polizei meint, daß sie vermutlich wieder hierher zurückgekehrt ist. Ein Streifenpolizist hat eine Frau, die Tamar Hawkings ähnlich sieht, beobachtet, wie sie zusammen mit den Kindern hier im Haus verschwunden ist. Aber es ist schwierig, sie zu finden - sie scheint einen geheimen Zugang zu haben, den ich nicht kenne. Ich an deiner Stelle würde es aufgeben, es sei denn, du hast genügend Leute mitgebracht, um das Haus von oben bis unten zu durchsuchen. Sonst ist sie nämlich weg, bevor irgend jemand sie findet.«
Deirdre nickte, als ich ausgeredet hatte. »Glaube mir, Vic, ich weiß mehr über obdachlose Frauen, als du meinst. Egal, was sie macht, sie wird auf jeden Fall versuchen, einen sicheren Ort für ihre Kinder zu finden.«
»Ich war heute morgen bei Jasper Heccomb. Du und Donald, ihr habt nicht ... «
»Warum bist du zu ihm? Ich hab' gedacht, du überläßt das mir.«
Ich knirschte mit den Zähnen. »Du glaubst, daß wir uns über gewisse Dinge unterhalten haben, aber das stimmt nicht. Außerdem: Wenn du schon so viel Arbeit für die erledigst, dann müßtest du eigentlich wissen, daß sie nicht vermitteln, deshalb war mein Besuch sowieso zwecklos. Ich hab's bei Marilyn im Arcadia House versucht, und Lotty hat bei Fiona's Place angerufen. Aber beides war Fehlanzeige.«
»Jasper kennt mich. Für mich macht er Dinge, die er für dich nicht tun würde. Ich finde das nicht gut, daß du das alles hinter meinem Rücken machst.«
Sie sprach ziemlich laut, genau wie auf der Party, als sie versucht hatte, sich gegen ihren Mann zu wehren. Ich begann, selbst wütend zu werden, als sie die Hände so fest zusammenballte, daß ihre Knöchel weiß hervortraten.
»Na schön«, meinte ich. »Mach, was du willst. Versuch du, Jasper dazu zu bringen, daß er eine Unterkunft für Tamar Hawkings findet.«
Ihr Gesicht nahm einen verschlagenen, fast triumphierenden Ausdruck an. Mir schoß der Gedanke durch den Kopf, daß sie und Jasper damals möglicherweise ein Verhältnis gehabt hatten - vielleicht war es auch noch gar nicht so lange her. Wenn sie nicht so wütend und verkniffen dreinschaute, war sie immer noch eine schöne Frau. Während ich sie noch nachdenklich ansah, sprang sie plötzlich auf die Füße und legte ihren Mantel über den Stuhlrücken. »Ich sehe mich nach Tamar um. Ich bin in ein paar Minuten wieder da.«
»Ich gehe gleich. Und wegen meiner Geräte muß ich mein Büro zusperren.« Deirdre hatte mich nur deshalb überraschen können, weil ich irgendwie gehofft hatte, Tamar würde zurückkommen.
»Ich brauch' nicht lange.« Bevor ich noch etwas sagen konnte, war sie schon draußen im Flur.
Ich ärgerte mich immer noch über ihre Unverfrorenheit, als sie schon wieder den Kopf zur Tür hereinstreckte. »Wenn jemand nach mir suchen sollte, dann sag ihm, ich bin gleich wieder da.«
Ich rannte ihr nach. »Einen Augenblick mal, Deirdre. Hast du etwa eine Verabredung in meinem Büro? Und das, ohne mich vorher zu fragen?«
In dem dunklen Flur konnte ich ihr Gesicht nicht erkennen, nur die Konturen ihres Körpers. Sie schaute aus wie am Mittwochabend und hatte den Kopf wie eine Kobra zurückgeworfen.
»Komm runter von deinem hohen Roß, Vic. Ich habe keine Verabredung in deinem wunderbaren Büro. Ich lasse ... die Leute ... nur wissen, wo ich bin.« Ich sog die Luft pfeifend ein. Also hatte sie sich mit Fabian gestritten und war hierhergekommen, um ihm ihre Unabhängigkeit zu beweisen. Ich gehe zu Vic, um dir zu zeigen, was für eine Heldin ich bin, versuch ja nicht, mich aufzuhalten, oder so ähnlich. All dieser Quatsch, den sie über Tamar Hawkings und Jasper Heccomb erzählt hatte, war also genau das: Quatsch. Ich machte auf dem Absatz kehrt und schlug die Tür zu meinem Büro hinter mir zu. Dann setzte ich mich wieder an meinen Schreibtisch und starrte meinen Computer an. Jedesmal, wenn ich zu arbeiten aufhörte, flimmerte mein Name in Blau über den Bildschirm, wie um mich zu
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