Engel in meinem Haar - Die wahre Geschichte einer irischen Mystikerin
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Den Schmerz der anderen auf sich nehmen
Da ich Lernschwierigkeiten hatte, die keiner wirklich verstand, beschlossen meine Eltern, ich sollte nach dem Umzug in das neue Haus in Leixlip nicht weiter zur Schule gehen. Und dabei war ich erst 14 Jahre alt! Es kränkte mich tief, dass sie vorher nicht einmal mit mir darüber gesprochen hatten. Zugleich war es nur ein weiteres Beispiel für die unterschiedliche Behandlung seitens meiner Eltern. Sie gaben mich zwar nicht weg, wie man ihnen früher einmal nahegelegt hatte, aber sie gingen mit mir anders um als mit meinen Geschwistern.
Ich bekam mit, wie sich unsere finanzielle Situation allmählich entspannte, doch blieb das ohne Auswirkungen auf mich. Wir besaßen nun endlich ein Telefon, das von meinen Brüdern und Schwestern heftig beansprucht wurde, ohne dass jemand Einwände dagegen erhoben hätte. Wollte ich es hingegen benutzen, wurde mir das unter Hinweis auf die hohen Kosten nicht erlaubt. Wollte ich ein Bad nehmen, hieß es »nein« oder »aber nur ein Sitzbad!«. Nachdem sich diese Situation häufig wiederholt hatte, wagte ich nicht mehr zu fragen und wusch mich stattdessen lieber in einer Waschschüssel, um nicht bitten zu müssen und wieder abgewiesen zu werden. Ich habe niemals wirklich begriffen, weshalb das so war, und kann das bis heute nicht, aber ich wurde deutlich anders behandelt als meine Geschwister, als wäre ich weniger wert als sie.
Ich ging meiner Mutter in Haus und Garten zur Hand und musste zusehen, wenn meine Brüder und Schwestern
sich auf den Schulweg machten. Eines Abends, unsere Mutter und wir Kinder saßen gerade beim Essen, verkündete meine Mutter, ich solle sie am nächsten Tag zu einer Beerdigung begleiten. Jemand aus der Verwandtschaft war gestorben und sie mochte nicht alleine hingehen. Meine Geschwister wollten unbedingt wissen, um wen es sich handelte, und mein Bruder Dillon fragte unsere Mutter nach dem Namen der Verwandten. »Theresa«, antwortete sie und zeigte uns ein Foto.
»Wir müssen den zeitigen Bus nehmen«, erklärte meine Mutter, »denn wir müssen durch die ganze Innenstadt auf die andere Seite, und von dort aus haben wir noch etwa zehn Minuten Fußweg zur Kirche vor uns.«
Am nächsten Tag war es sehr kalt. Sobald meine Geschwister in Richtung Schule unterwegs waren, trug Mam mir auf, mich warm anzuziehen. Ich mummelte mich also mit Mantel, Mütze, Schal und Handschuhen entsprechend ein. Meine Mutter nahm vorsichtshalber noch einen Regenschirm mit. Dann machten wir uns auf zur Bushaltestelle. Als wir im Bus saßen, blickte ich aus dem Fenster und versank in Gedanken, überlegte, wie eine Beerdigung wohl vor sich gehen mochte, denn ich hatte ja noch nie eine erlebt.
Nach einer Weile wandte sich meine Mutter zu mir um und sagte: »Wir sind gleich da, Lorna. Und denk dran: Halt dich die ganze Zeit über an mich und mach dich ja nicht etwa selbstständig. Du könntest dich verlaufen.«
Unsere Haltestelle kam und wir stiegen aus; bis zur Kirche hatten wir noch ein ganz schönes Stück zu gehen. Es waren sehr viele Menschen dort und alle schienen sehr betrübt. Der Priester las die Messe und ich verfolgte das ganze Zeremoniell mit großen Augen.
Nach dem Gottesdienst gingen wir alle auf den nahe gelegenen Friedhof. Dort nahm ich mit Erstaunen wahr, wie viele Engel sich um meine Verwandten geschart hatten – von denen ich nur die wenigsten kannte. Es war eine große Beerdigung und ich setzte mich ein bisschen
von der Menge ab, um einen besseren Überblick zu bekommen. Mam stand im Gespräch mit anderen und bemerkte es nicht. Neben einem Grab wuchs ein Strauch und dort sah ich einen weiteren Engel; eine wunderschöne Engelfrau, die zwar Menschenkleider trug, jedoch selbst von einem lebhaften Himmelblau war. Ich fragte sie: »Was machen all die Engel hier?«
Ich hatte schon oft Engel auf Friedhöfen gesehen, aber noch nie zuvor in solcher Vielzahl. Sie lächelte mir zu und antwortete: »Lorna, wie wir wissen, musst du noch eine ganze Menge Dinge lernen: Dies ist ein Ort, an den Engel herbeigerufen werden, ein Ort des Schmerzes, der Trauer, wo Menschen bitten: ›Oh, Gott, steh mir bei! Ich schaffe das alleine nicht!‹, und deshalb versammeln wir uns hier.«
Der wundervolle blaue Engel nahm mich bei der Hand und führte mich durch die große Schar der Trauernden. Wir schlängelten uns durch das Gewühl; es schien, als machten die Menschen uns Platz, und obwohl mich jeder sehen musste, versuchte niemand, mich
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