Engelsblut
Samuel sich als Enttäuschung erweisen sollte ...«
Sie schweigt, als hätte sie nie geredet, und sitzt so starr, als hätte sie nie gelebt.
»Nein, nein«, fahre ich hastig fort. »Ganz gleich, wie schrecklich dieses letzte Bild sein mag – es wird mich nicht erschüttern können. Seinetwegen bin ich hierher gekommen und gedenke nicht, mit leeren Händen wieder zu gehen ... «
Keine Antwort.
»Mich bekümmern nicht die Umstände, unter denen dieses letzte Bild entstand«, setze ich werbend hinzu, denn solange ich auf sie einrede, kann sie mich nicht fortschicken. »Auch müsst Ihr mir Eure Erinnerungen nicht verraten. Es genügt, wenn Ihr erzählt, ob dieses Bild, das Ihr schrecklich heißt, einen Engel zeigt, so wie viele der anderen Bilder, die Samuel Alt malte!«
Mein Reden bricht ihre Fassade nicht, aber wird auch nicht abgeschmettert. Sie scheint sich abgefunden zu haben, dass sie mich mit geheimnisvoller Drohung nicht vertreiben kann.
»Zunächst hielt ich nicht viel von Samuel Alt, eben weil er Engel malte«, spreche ich fort. »Dies ist ein Motiv, das in meinen Augen Sinnentrug, Irrwitz und Aberglauben befördert – das Wahrhaftige aber nicht. Gustave Courbet, einer der größten Realisten, sagte: Ich habe noch nie einen Engel gesehen. Zeigen Sie mir einen Engel, und ich werde ihn malen. Daher habe ich mich lange nicht um Samuel Alt bemüht – bis ich einst ein Bild von ihm erblickte, auf dem er einen Menschen darstellt. Es hat mich nicht wieder losgelassen. Er hat die Mimik eingefangen, als wäre die Leinwand ein Spiegel. Ich kenne den Porträtierten nicht – aber sein Bild verrät so deutlich, wer er sein könnte, dass mir scheint, ich hätte Jahre meines Lebens an der Seite dieses Mannes zugebracht. Versteht Ihr, was ich meine?«
Über ihr Gesicht scheint die Andeutung einer Erinnerung zu huschen.
Aber vielleicht trügt mich mein Blick, weil ich so lange dasselbe Bild fixiere. Er scheint mir nicht mehr nüchtern und klar zu sein. Wie ich da rede, keimt jene lästige Neugierde auf, die mich dazu verführt, aus dem seltsamen Weib etwas heraussaugen zu wollen – nämlich, warum sie so sitzt und was es mit Samuel zu tun hat.
Doch ich will’s nicht wissen! Sobald sich die Kunst von der Wahrheit der Motive entfernt, taugt sie nicht. Lasse ich mich verstricken, verliere ich mich!
»Und schließlich«, erkläre ich hastig, »hörte ich das Gerücht, dass dieses letzte Bild Samuels noch wahrhaftiger sei als alles, was er bisher vollendet hatte. Niemand wollte mir jemals sagen, was es zeigt – doch alle deuten an, dass es das bisher Dagewesene übertreffe. Dieser Bartholomé Vernez, sein früherer Schüler, bestätigte es mir durch sein Erschaudern. Und auch der Kunsthändler, den ich in Italien traf ... «
Eben noch war ihr Gesicht verschlossen, sodass mich deuchte, sie habe ihre Taktik verändert und will mich nicht mehr durch Warnung fortschicken, sondern, indem sie mich ins Leere laufen lässt. Doch mein letzter Satz, der – wie mir schien – nichts Besonderes verheißen hat, stochert so tief in ihrer Seele, dass sie abrupt ihre Hände hochreißt, sie vor die Brust schlägt und nach Atem ringt, so gierig und heftig, als wolle sie alle abgestandene Luft in diesem Raum in ihre Lungen saugen.
Lebendig ist, was sie befällt. Es zwingt mich, der ich diesen Schock auslöse, mit ihr zu erschaudern.
»Oh mein Gott!«, stößt sie aus. »Habt Ihr ihn getroffen?«
»Wen?«, frage ich verwirrt.
»Grothusenl«, schreit sie viel lauter, als ich je von ihr erwartete. »Habt Ihr Simon Grothusen getroffen?«
Ich will ihr nicht zeigen, wie wenig ich mit dieser panischen Frage anzufangen weiß.
»Lena ...«, setze ich an, aber sie kommt mir zuvor.
»Grothusen hat erkannt, wie Engel sind«, stößt sie aus sich heraus. »Engel sind grausame Vollzieher von Gottes Gericht. Sie schreiben des Menschen Taten in sein Weltenbuch, entblößen alles Böse, Schändliche, Qualvolle – ein für alle Mal, auf immer und ewig. Engel vergessen nichts – was gleichsam bedeutet, dass sie nicht verzeihen können.«
Ihr scheint zu schwindeln, obwohl sie sitzt. Ihr vergangenes Leben, das sie hier in diesem Raum sorgsam zu behüten scheint, prasselt auf sie ein. Hilflos sehe ich dabei zu, weiß nicht, wie ich sie beruhigen könnte, und noch weniger, ob es Sinn hat zu bleiben.
Schließlich wird ihr Atem regelmäßig. Sie schaut mich endlich an.
»Kann Grothusen verzeihen?«, fragt sie.
»Der Schmerz ist ein heiliger
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