Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut
Knöcheln aufplatzte und Blut seinen Handrücken hinunter rann.
Eve überlief es siedend heiß, als sie dem Mann in die Augen starrte. Das hier war ein riesiger Club, vollgestopft mit Hunderten von Leuten. Sie hatte gedacht, dass das Risiko überschaubar war, dass sie ein paar Leute nach den Killern fragen konnte und dann wieder abtauchen in die Menge. Nicht aber, dass sie ihnen hier tatsächlich über den Weg laufen würde. Vor Entsetzen vergaß sie beinahe zu atmen. Der Mann würde wissen, dass sie es gewesen war, auf dem Dach gestern Nacht.
„Hallo, Eve“, sagte Andrej. „Freut mich, dich kennen zu lernen.“ Er sprach mit einem scharfen Akzent. Sein Lächeln entblößte leuchtend weiße Zähne. Nicht ein Hauch von Wiedererkennen hing in seinem Blick. „Was willst du trinken?“
„Martini“, stammelte sie.
Die Luft schien mit Metalldampf gesättigt zu sein. Eve ließ zu, dass er seinen Arm um ihre Schulter legte. Einen kräftigen, muskulösen Arm, der mühelos ein Genick brechen konnte.
„Komm mit, wir haben eine Nische.“
Die Ähnlichkeit zwischen den Brüdern war unverkennbar. Eve war sich mit einem Mal ganz sicher, dass dies die beiden Männer waren, die sich in der Nacht zuvor den Kampf mit Alan geliefert hatten. Zwar hatte sie die Gesichter im Halbdunkel nicht erkennen können, aber sie erinnerte sich an Andrejs kurz geschorenes, platinblondes Haar. Er war der Kerl, den sie zuerst niedergeschossen, und der den anderen schließlich aufgehalten hatte.
„Ich habe dich noch nie hier gesehen“, sagte Andrej. Er leitete sie zu einer Treppe und hoch zur Galerie. „Bist du zum ersten Mal im Valhalla?“
„Eine Freundin hat mir den Club empfohlen.“
Andrej zog sie mit sich in die Polster eines barocken Sofas in einem Separee. Die Musik klang dumpfer als im Erdgeschoss.
Unfassbar. Wie war es möglich, dass er sie nicht erkannte? Wahrscheinlich, weil er nicht damit rechnete. Andrej hatte ihr Gesicht genauso vage im Halbdunkel gesehen wie sie seines. Und hier, in den Dunstschwaden des Valhalla, nahm er nur eine weitere Schöne mit langen Beinen und glänzenden Lippen wahr.
Zeit, sich zu entspannen, dachte sie mit Sarkasmus. Alles bestens. Er hatte sie nicht erkannt, also war sie relativ sicher. So sicher, wie es nur ging, wenn man im Arm eines Kerls lehnte, der zusammen mit seinem Bruder jede Nacht zwei Obdachlose aufschlitzte. Ob sie heute auf die Jagd gehen würden?
„Wo kommst du her?“, fragte Eve, angestrengt um einen Plauderton bemüht.
„Warum fragst du?“
„Dein Akzent klingt interessant.“
Andrej lachte. Er verströmte eine überwältigende, raubtierhafte Vitalität, der sie sich kaum entziehen konnte. Eine Ecke ihres Bewusstseins registrierte, dass sie ihn attraktiv gefunden hätte, wäre sie ihm ohne Vorwissen auf der Straße begegnet.
„Moskau“, sagte er.
„Und gefällt dir L.A.?“
„Die Stadt ist braun. Keine Farbe, nur Staub.“
Andrej nahm sich eine Handvoll Weintrauben von der Schale in der Mitte des Tisches. An seinem Mittelfinger trug er einen altertümlich geformten Ring. In einem Gespinst aus Silberfäden thronte ein weißer Opal.
„Bist du jetzt traurig, dass mir deine Stadt nicht gefällt?“ Er hob die freie Hand und strich ihr über die Wange. Eve hinderte ihn nicht. Sie fühlte altvertraute Abenteuerlust, dieses Fieber, das sie immer wieder in Schwierigkeiten brachte. Sie balancierte auf einem Drahtseil, spürte es schwingen, und machte einen weiteren Schritt. Und noch einen, weil ein Preis winkte. Eine Antwort, eine Story, ein Teil eines Puzzles.
„Wie ist es in Moskau?“, fragte sie.
„Moskau ist der leuchtende Diamant im Dekolleté von Mutter Erde.“
Andrej beugte seinen Kopf zu ihr herab und versuchte, sie zu küssen. Seine Haut verströmte einen intensiven Ingwerduft. Eve spürte seinen Atem an ihrer Wange. Seine körperliche Präsenz schnürte ihr die Luft ab. Sie fühlte sich gefangen im Innern einer gewaltigen Stahlpresse, deren Wände mit Samt ausgekleidet waren und sich unaufhaltsam um sie schlossen.
Als Nastasja auftauchte und ein Tablett mit Gläsern abstellte, nutzte Eve die Ablenkung, um sich Andrejs Umarmung zu entziehen. Sie beugte sich vor und griff nach ihrem Martini. Sein Arm legte sich erneut um ihre Schultern. Sie spürte, wie seine Finger unter die Träger ihres Kleides schlüpften. Einem plötzlichen Impuls folgend griff sie nach seiner Hand und zog sie weiter nach vorn. Ihre Fingerspitzen streichelten über sein
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