Engelsfluch
Ihrem Bruder gemacht wurde, über die Sie nicht sprechen wollen?«
Angelo richtete seine Augen auf Vanessa, und jetzt erst schien er die Frau richtig wahrzunehmen. In seinem Blick lag eine Mischung aus Erstaunen, Verwirrung, Unsicherheit und Zorn.
»Wer bist du? Woher kennst du diesen Namen?«
»Den Namen Piranesi, Ihren Namen? Den habe ich aus alten Aufzeichnungen über Ihre Begegnung mit dem Engel.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Bitte, geh!«
»Was fürchten Sie so sehr, Signor Piranesi?«, fragte Vanessa.
»Haben Sie Angst, Ihre besonderen Kräfte zu verlieren, wenn Sie darüber mit Fremden sprechen? Ist das der Handel, den Sie mit dem Engel getroffen haben?«
»Du weißt gar nichts!«, entgegnete Angelo. »Gott schickt uns seine Boten nicht, um zu handeln. Was sollten wir dem Allmächtigen schon zu bieten haben?«
»Gehorsam, Gefolgschaft, Liebe«, schlug Vanessa vor.
»Unseren Gehorsam und unsere Gefolgschaft kann der Herr erzwingen, wenn Ihm daran gelegen ist. Auf unsere Liebe ist Er nicht angewiesen, wir aber auf Seine.«
»Dann sagen Sie es mir«, verlangte Vanessa. »Welche Botschaft hat Ihnen der Engel damals überbracht?«
Angelo senkte den Blick und starrte in die Kerzenflamme.
»Ich darf nicht darüber sprechen.«
»Hat der Engel es Ihnen verboten, oder war es der Vatikan?«
fragte Vanessa.
Der Einsiedler schüttelte traurig den Kopf. »Ihr achtet meine Worte nicht, so wenig, wie ihr euer eigenes Wort achtet, das ihr anderen gebt.«
Enrico fühlte sich tief getroffen. Das Schlimmste war, dass Angelo Recht hatte. Enrico hatte sein Wort gebrochen, weil er gehofft hatte, mehr über den Einsiedler, über die seltsamen Heilkräfte und letztlich auch über sich selbst zu erfahren. Aber es sah ganz so aus, als hätten Enrico und Vanessa mit ihrem Ausflug in die Berge eher eine Tür zugestoßen statt eine geöffnet. »Es tut mir Leid, Angelo«, sagte er, während er dem Alten in die Augen sah. »Ich habe nicht in böser Absicht gehandelt. Wir werden Sie jetzt verlassen. Falls Sie es sich anders überlegen und mit uns sprechen wollen, finden Sie mich im Hotel ›San Lorenzo‹. Wenden Sie sich einfach an Ezzo Pisano, er wird Sie schon zu mir bringen. Verzeihen Sie, dass wir hier einfach eingedrungen sind.«
Vanessa schien nicht viel davon zu halten, so rasch aufzugeben, aber Enrico zog sie mit sanfter Gewalt mit sich. Als sie wieder zu ebener Erde und im Tageslicht standen, zischte sie: »Das war dumm von Ihnen, Enrico. Wir hätten den Mann mit Sicherheit zum Reden gebracht.«
»Ich bin mir da keineswegs so sicher wie Sie. Und jetzt kommen Sie, wir haben uns hier schon genügend lächerlich gemacht!«
Vanessa blickte ihn empört an. »Wer hat sich lächerlich gemacht? Ich etwa?«
»Wir beide.«
Wieder packte er sie an der Hand und zog sie mit sich.
Anfangs sträubte sie sich, aber dann fügte sie sich und folgte ihm freiwillig.
Sie hatten den größten Teil der Strecke zu der Lichtung mit Vanessas Wagen bereits zurückgelegt, als fremde Geräusche an ihre Ohren drangen. Erst hörten sie nur Schritte und das Knacken zertretener Äste, und sie dachten, Angelo habe es sich anders überlegt und folge ihnen, um mit ihnen zu sprechen.
Dann aber hörten sie auch Stimmen, die halblaut miteinander sprachen. Es waren mehrere Personen, durch das dichte Unterholz vor ihren Blicken verborgen. Aber die Unbekannten kamen näher und schienen darauf aus zu sein, Enrico und Vanessa einzukesseln.
»Laufen Sie!«, raunte Enrico Vanessa ins Ohr, und zeitgleich begannen sie zu laufen.
Die Lichtung mit dem Wagen konnte nach Enricos Schätzung höchstens noch zweihundert Meter entfernt sein. Sie hasteten durch das dichte Unterholz, so schnell es ging. Auch ihre Verfolger liefen jetzt, aber Enrico und Vanessa erreichten die Lichtung zuerst. Ihr Pech war nur, dass der Fiat verschwunden war. Heftig keuchend, standen sie auf der leeren Lichtung und blickten sich irritiert um, während es rings um sie im Unterholz knackte. Sie saßen in der Falle: Die Verfolger hatten sie umzingelt.
16
Nördliche Toskana,
Mittwoch, 30. September
»… haben wir gerade neue Informationen über das heftige Erdbeben erhalten, das gestern die Stadt Neapel und das umliegende Gebiet erschüttert hat. Aus Neapel und fast allen anderen Städten in einem Umkreis von einhundert Kilometern werden schwere Verwüstungen gemeldet. Die neuesten Opferzahlen sprechen nach amtlichen Angaben von vierhundertachtundsiebzig Toten und
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