Engelsfluch
mehreren tausend Verletzten. Der Sachschaden ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht zu ermessen, beläuft sich aber mit Sicherheit auf einen dreistelligen Millionenbetrag. In Neapel wurden ganze Straßenzüge dem Erdboden gleichgemacht. Über die Ursache des plötzlichen Erdbebens, für das es keinerlei Vorwarnung gegeben hat, ist noch nichts bekannt. Ein Zusammenhang mit dem ebenfalls unerwarteten Ausbruch des Vesuvs, der zur selben Zeit stattfand, ist jedoch wahrscheinlich. Über das gesamte Gebiet wurde der Ausnahmezustand verhängt. Starke Militäreinheiten sind aus allen Teilen des Landes unterwegs, um bei den Bergungsarbeiten zu helfen und um die öffentliche Sicherheit zu garantieren. Aus mehreren Städten wurden Plünderungen gemeldet. In Caserta kam es zu einem Feuergefecht zwischen der Polizei und einer Bande von Plünderern, bei dem drei Beamte verletzt und fünf Plünderer getötet wurden. Die Polizei weist darauf hin, dass ihren Anordnungen unbedingt Folge zu leisten ist. Außerdem wird vor der Rückkehr in teilweise zerstörte Häuser gewarnt, weil diese ganz einstürzen könnten. Weiterhin ist mit neuen Beben zu rechnen, weshalb die Bevölkerung in den gefährdeten Gebieten gebeten wird, die öffentlichen Notlager aufzusuchen. Wir schalten jetzt zu unserem Reporter in Neapel, der …«
Alexander hörte bloß noch mit halbem Ohr auf das Autoradio. Er hatte schon mehrere Liveberichte aus Neapel gehört, bei denen die Reporter immer nur erzählen konnten, dass sie auch nicht mehr wussten, als allgemein bekannt war. Er konzentrierte sich lieber auf die gewundene Bergstraße. Vor ihm tauchte eine Straßengabelung auf, und er drosselte die Geschwindigkeit des VW Polo, um die verwitterten Schilder entziffern zu können. Links ging es nach Borgo San Pietro, also lenkte er den Wagen in diese Richtung. Leichter Regen setzte ein, und die Scheibenwischer begannen ihre monotone Arbeit.
Alexanders Gedanken wechselten von der Katastrophe in Neapel zu seinen persönlichen Angelegenheiten. Der Tod seines Vaters lag erst vierundzwanzig Stunden zurück. Viel zu wenig Zeit, um ihn auch nur ansatzweise zu verarbeiten. Alexander war erstaunt, wie nachhaltig er getroffen war. Vor ein paar Monaten hatte er geglaubt, mit seinem Vater für alle Zeiten fertig zu sein. Aber das war ein Trugschluss gewesen, geboren aus seinem Zorn und seiner Verzweiflung. Jetzt erst begriff er die verborgene Hoffnung, die er tief in sich vergraben und sich nicht eingestanden hatte. Die Hoffnung, eines Tages doch noch einen Vater zu haben. Eine Hoffnung, die sich jetzt nie mehr erfüllen würde.
Noch immer war unklar, was mit Markus Rosins Leiche geschehen würde. Alexander wollte Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um eine Obduktion durchzusetzen, mochte Generalinspektor Tessari sich auch noch so sehr dagegen sperren. Alexander hatte sogar daran gedacht, den Papst in Neapel anzurufen, aber das Erdbeben und der Ausbruch des Vesuvs waren dazwischengekommen. In der ersten Aufregung hatte es sogar geheißen, Papst Custos sei tot. Dann aber wurde die Meldung korrigiert. Das Kloster San Francesco, in dem Custos sich aufhielt, hatte einige Schäden davongetragen, aber es war nicht eingestürzt, wie es anfangs geheißen hatte. Custos und sein Privatsekretär sollten mit leichteren Verletzungen davongekommen sein. Als diese Nachricht publik wurde, war Alexander ein Stein vom Herzen gefallen.
Aber der Tod seines Vaters lastete weiter auf ihm. Er sehnte sich nach Elena, dem einzigen Menschen, der ihm geblieben war. Am Morgen hatte er sich kurzerhand in seinen Mietwagen gesetzt und die Autobahn nach Norden genommen. Er wollte Elena überraschen, aber er selbst war überrascht gewesen, als er das Krankenhaus in Pescia betrat. Eine Ärztin namens Addessi hatte ihm mitgeteilt, dass Elena sich gestern Mittag gegen den Rat der Ärzte selbst entlassen habe. Sie hatte sich gelangweilt und gemeint, gesünder könne sie nicht mehr werden. Sie hatte Dr. Addessi noch gesagt, der Einsiedler, der ihr geholfen habe, interessiere sie brennend. Alexander war zu Elenas Hotel gefahren, wo er hörte, dass sie nur für ungefähr eine Stunde auf dem Zimmer gewesen sei. Dann war sie mit ihrem Mietwagen weggefahren und seitdem im Hotel nicht mehr gesehen worden.
Das Zimmermädchen berichtete, dass Elenas Bett in der Nacht nicht benutzt worden sei. Da Enrico Schreiber im selben Hotel wohnte, erkundigte Alexander sich auch nach ihm. Auch er hatte sein Zimmer in der Nacht
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