Engelsfluch
die ganze Sache für ihn noch nicht vorüber war. Sein Traum suchte ihn jede Nacht mit einer Heftigkeit heim, die ihn kaum noch schlafen ließ. Vielleicht wäre er verzweifelt, wäre nicht Vanessa gewesen, die neben ihm lag und ihn tröstete. Sie war eine wunderbare Frau, und er hätte sehr glücklich sein können, wäre nicht dieser Traum gewesen.
Jetzt war es Nachmittag, die Sonne schien, und das grüne Tal unweit von Neapel wirkte angesichts all der Verwüstung ringsum auf Enrico wie das Paradies. Sie hatten den Mietwagen unter der ausladenden Krone einer Pinie geparkt, und Enrico spähte durch ein kleines, aber leistungsfähiges Fernglas zu dem weitläufigen Anwesen hinüber.
»Es ist schon nach drei«, sagte Vanessa, die neben ihm stand.
»Vielleicht kommt er heute nicht.«
»Er geht jeden Tag durch diesen Pinienhain spazieren, auch gestern und vorgestern. Warum sollte er es heute nicht tun?«
»Vielleicht halten dringende Geschäfte ihn ab.«
Enrico stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Nein, er hat sich nur etwas verspätet. Hier, sieh selbst!«
Er reichte Vanessa das Fernglas, damit sie die kleine Gruppe sehen konnte, die das Anwesen verließ und gemächlichen Schrittes auf den Pinienhain zuhielt. Vorneweg ging eine weiß gekleidete Gestalt, Tomás Salvati, der Gegenpapst.
»Und du willst wirklich mit ihm sprechen?«, fragte Vanessa, als sie das Fernglas absetzte.
»Deshalb bin ich hier. Meinst du, sonst hätte ich an den vergangenen beiden Tagen diesen Ort ausgekundschaftet? Sein Nachmittagsspaziergang ist die einzige Gelegenheit, an Salvati heranzukommen.«
»Aber selbst wenn er mit dir spricht, könntest du enttäuscht sein.«
»Das werde ich nur herausfinden, wenn ich es probiere.
Wünsch mir Glück, Vanessa!«
»Das tu ich, von ganzem Herzen.«
Sie küsste ihn auf den Mund, bevor er in gebückter Haltung in den Pinienhain eintauchte, um unbemerkt möglichst nah an die Gruppe mit dem Gegenpapst heranzukommen. Während er durch das Gehölz schlich, kam er sich vor wie ein Kind, das seinem Vater einen Streich spielen wollte. Genau genommen kam das der Wahrheit ziemlich nah. Zugleich klopfte sein Herz, und er hatte Angst vor dem Augenblick, den er so herbeigesehnt hatte. Es würde jener Moment sein, an den man ein ganzes Leben zurückdachte, im Guten wie im Schlechten. Er unterdrückte den starken Impuls, umzukehren und sein womöglich kindisches Indianerspiel abzubrechen. Er war nicht so weit gegangen, um jetzt zu kneifen. Und vielleicht würde er nie wieder die Gelegenheit erhalten, seinem Vater zu begegnen, ihm überhaupt derart nah zu kommen. Schon hörte er die leisen Stimmen der Männer, die sich angeregt unterhielten. Er wollte stehen bleiben, um sich sein weiteres Vorgehen zu überlegen, da knackte unter seinem rechten Fuß laut ein zerbrechender Ast.
Automatisch hielt Enrico die Luft an und lauschte. Das Geräusch schien niemandem aufgefallen zu sein. Er beschloss, das Versteckspiel aufzugeben und sich offen zu zeigen. Er war nah genug, um seinem Vater von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Gerade als er diesen Entschluss gefasst hatte, durchbrachen zwei sich schnell bewegende Gestalten das Unterholz, warfen sich auf ihn und drückten ihn zu Boden. Er schlug mit dem Rücken auf und hatte noch Glück, dass der Waldboden einigermaßen weich war. Auf Enrico kauerte ein großer hellhaariger Kerl, dessen Muskeln den grauen Anzug zu sprengen drohten. Er richtete die Mündung einer automatischen Pistole auf Enricos Stirn.
Der zweite Bodyguard stand breitbeinig daneben, hatte ebenfalls seine Automatik auf Enrico gerichtet und rief laut:
»Wir haben den Attentäter! Aber möglicherweise sind hier noch weitere versteckt. Bringt Seine Heiligkeit in Sicherheit!«
Von einer Sekunde zur anderen wurde Enrico das Groteske der Situation bewusst. Vor wenigen Tagen noch hatte er vergeblich – versucht, ein Attentat auf Papst Custos zu vereiteln.
Und jetzt wurde er selbst, obwohl er nicht einmal eine Waffe bei sich trug, für einen Mann gehalten, der den Gegenpapst ermorden wollte. Enrico konnte nicht anders als laut lachen.
Weitere Gestalten bahnten sich einen Weg durchs Unterholz, Geistliche in dunklen Anzügen und ein hoch gewachsener Mann in einem langen, weißen Gewand. Der Leibwächter, der eben gerufen hatte, wandte sich entsetzt zu dem Weißgewandeten um.
»Aber Heiligkeit, Sie sollten nicht hier sein! Hier droht Ihnen Gefahr!«
Tomás Salvati alias Lucius IV. blickte
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