Engelsfluch
fahre heute Abend nach Rom, um im Vatikan Bericht zu erstatten. Das ist keine leichte Aufgabe, glauben Sie mir!«
»Sie sind vermutlich besser informiert als wir, Don Luu«, meinte Vanessa. »Wie hat man im Vatikan auf die schreckliche Nachricht reagiert?«
»Natürlich war es ein Schock, aber unser aller Arbeit geht weiter, und zur Trauer bleibt wenig Zeit. Die wichtigste Frage ist jetzt: Was kommt nach Papst Custos?«
»Was oder wer?«, hakte Elena nach. »Laufen etwa schon die Vorbereitungen für die Wahl eines neuen Papstes?«
»So schnell geht das nicht. Außerdem steht noch gar nicht fest, ob wir tatsächlich einen Papst wählen müssen.«
»Jetzt sprechen Sie in Rätseln, Don Luu.« Elena sprach aus, was sie alle dachten.
»Es gibt schon einen Papst. Lucius. Nicht wenige Entscheidungsträger im Vatikan sind der Ansicht, er sei das passende Oberhaupt einer wiedervereinigten Kirche.«
Alexander starrte Luu fassungslos an. »Aber das würde alle Reformen, die Custos in den vergangenen Monaten in Angriff genommen hat, beenden. Es wäre fast so, als hätte es Papst Custos nie gegeben.«
»Mehr noch«, meinte Elena, »unter Papst Lucius wäre die Kirche vielleicht konservativer als jemals zuvor. Dann hätten im Vatikan Mächte das Sagen, deren Einfluss verheerend sein kann.«
Enrico, Vanessa und Alexander wussten, was sie meinte: den Einfluss von Totus Tuus.
»Das wäre der Nachteil dieser Lösung«, stimmte Luu zu.
»Der Vorteil läge in der Überwindung des Schismas.«
»Aber zu welchem Preis!«, rief Alexander, lauter vielleicht, als er beabsichtigt hatte.
»Manch einer meint, die Wiedervereinigung der Kirche sei jeden Preis wert.«
Elena fixierte den Geistlichen. »Und was meinen Sie, Don Luu?«
Der Privatsekretär holte tief Luft und schien sich unwohl in seiner Haut zu fühlen. »Ich war Papst Custos persönlich und auch in seinen Ansichten eng verbunden, sonst hätte er mich nicht in dieses Amt berufen. Aber inzwischen weiß ich nicht mehr, ob er in allem den richtigen Weg gegangen ist. Er kannte sein Ziel und ist geradewegs darauf losgegangen. Aber andere konnten ihm nicht folgen, jedenfalls nicht so schnell. Was in zwei Jahrtausenden Kirchengeschichte gewachsen ist, lässt sich nicht in wenigen Monaten ändern. Vielleicht brauchen wir jetzt einen konservativen Papst, um der Kirche das feste Fundament wiederzugeben, das ihr in jüngster Zeit zu entgleiten drohte.«
»Und was sagt die Gegenkirche dazu?«, wollte Vanessa von Luu wissen.
»Wir haben darüber noch nicht mit den Abweichlern gesprochen. Deshalb muss ich ja nach Rom. Morgen findet im Vatikan eine Konferenz statt, die uns bei der Entscheidungsfindung helfen soll.«
Als Henri Luu gegangen war, stieß Alexander einen heftigen Fluch aus. »Ich wünschte, statt Custos hätte es diesen Lucius erwischt!«
Enrico sah den Schweizer an und erwiderte: »Ich nicht.«
18
Nördlich von Neapel,
Montag, 5. Oktober
Das Landgut lag so friedlich in dem kleinen, von Steineichen und Pinien bewachsenen Tal, als hätten das schwere Erdbeben und der Ausbruch des Vesuvs niemals stattgefunden. Hier schien es keine Zerstörungen gegeben zu haben, das Anwesen machte von außen einen völlig intakten Eindruck. Vermutlich, dachte Enrico, hat Tomás Salvati es deshalb zu seinem vorläufigen Quartier gemacht. Nach dem Gottesdienst auf dem Monte Cervialto hatte er sich hierher zurückgezogen und war seitdem nicht mehr an die Öffentlichkeit getreten. Den Medien aber bot er auch so genügend Stoff. Es war zu keinen weiteren Erdbeben gekommen, und auch der Vulkan am Golf von Neapel hatte sich beruhigt. Landauf, landab rätselte man, ob Gott durch die Messe auf dem Monte Cervialto tatsächlich versöhnt worden war oder ob es sich um einen bloßen Zufall handelte. Ein paar Boulevardblätter spekulierten gar, ob Custos’ Tod das Opfer gewesen sei, durch das man Gottes Wohlwollen wiedererlangt habe.
Im Vatikan wurden heiße Diskussionen darüber ausgetragen, ob man einen neuen Papst wählen oder ob man Lucius das Amt des Oberhirten antragen solle. Gestern erst hatte Enrico mit Elena telefoniert, die am Samstag mit Alexander nach Rom zurückgefahren war. Sie hatte gesagt, sie müsse sich die Finger wund schreiben, so viele sich überschlagende Nachrichten gab es derzeit aus dem Vatikan.
Enrico und Vanessa waren in der Gegend von Neapel geblieben und hatten sich in dem Ort Aversa, der von dem Erdbeben verschont geblieben war, einquartiert. Enrico spürte, dass
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