Engelsfluch
Etrusker kennen, ja. Die zahlreichen Engelsdarstellungen auf ihren Relikten sind dir ja auch aufgefallen.«
»Der Geflügelte in meinem Traum, ist das Luzifer?«, fragte Enrico.
»Vielleicht. Möglich, dass er die Macht über dich erlangen will über einen der letzten Engelssöhne. Aber du siehst nicht nur den Dämon, sondern auch den leuchtenden Uriel.«
»Wen?«
»Das Wesen, das du siehst, wenn du nicht in die Teufelsfratze starrst. Es ist unser beider Ahnherr Uriel, der vierte Erzengel.« Enrico versuchte, sich an seinen lange zurückliegenden Religionsunterricht zurückzuerinnern. »Tut mir Leid, aber ich kenne nur drei Erzengel: Michael, Gabriel und Raphael.«
»Das sind die drei Erzengel, die namentlich in der Heiligen Schrift erwähnt werden. Die Kirche hat anfangs auch Uriel als Erzengel verehrt, dann aber davon abgelassen, weil sein Name nicht in der Bibel steht.«
»Und doch gibt es ihn?«
»Vielleicht wundert es dich, das gerade aus meinem Mund zu hören, aber nicht alles, was in der Heiligen Schrift steht, ist richtig. Und nicht alles, was richtig ist, steht in der Bibel.
Henoch, der Sohn Seths, der wiederum ein Sohn Adams war, erwähnt Uriel, aber Henochs Schriften sind nicht Teil der Bibel, wie wir sie kennen. Die äthiopische Kirche dagegen betrachtet sie als Bestandteil der Bibel und feiert Uriels Fest an jedem fünfzehnten Juli. Kann das, was wahr ist, davon abhängen, ob man gerade in Äthiopien ist oder nicht?«
»Wohl kaum«, sagte Enrico. »Erzähl mir mehr über Uriel!
Schließlich sucht er mich seit frühester Kindheit in meinen Träumen heim.«
»Uriels Name bedeutet ›Gott ist mein Licht‹. Das ist auch mein Motto, und deshalb gab ich mir nach meiner Wahl zum Papst den Namen Lucius, der Leuchtende. Ich möchte die Herzen der Menschen im Sinne Gottes erleuchten, wie es auch Uriel tut. Er wird als erster unter den sieben höchsten Engeln genannt, als Herrscher über die Welt der Menschen und den Hades, und in einigen alten Schriften nennt man ihn den
›Engelsfürst‹.«
Enrico erschrak und stieß sein Wasserglas um. Das Nass ergoss sich über die Tischplatte und tropfte auf den Fußboden.
»Was hast du?«, fragte sein Vater besorgt.
»Auch Angelo erwähnte den Engelsfürst, als er von der Vision seines Bruders sprach.«
»Und?«
»Nach Angelos Worten sah sein Bruder Fabrizio eine Welt, in der sich die Kirche gespalten hatte und in der es zwei Päpste gab. Doch nur einer der Päpste folgte dem richtigen Weg. Der andere war verblendet von dem Verfluchten, dem Engelsfürst.
So ähnlich hat Angelo es erzählt.«
Tomás Salvati war blass geworden und schüttelte den Kopf.
»Das kann nicht sein! Enrico, das kann nicht wahr sein!«
»Ich habe keinen Grund, dich anzulügen, Vater. Und ich wüsste auch keinen Grund, weshalb Angelo gelogen haben sollte.«
Salvati wirkte erregt. »Hat Angelo noch etwas gesagt über den Engelsfürst und die gespaltene Kirche?«
»Ja. Die Botschaft an seinen Bruder sei gewesen, dass nur eine vereinte Kirche der Bedrohung widerstehen könne, die der Engelsfürst mit seinem Fluch heraufbeschworen hat.«
»Bist du dir da sicher?«
Enrico nickte. »So lauteten Angelos Worte.«
»Aber sie sind falsch! Das Gegenteil stimmt. Die Kirche musste sich spalten, um zu ihrer wahren Bestimmung zurückzufinden. Nur dann hat sie die Kraft, das Böse abzuwehren. Das ist es, was Fabrizio damals offenbart wurde.«
»Woher willst du das wissen, Vater?«
19
Nördlich von Neapel,
Mittwoch, 7. Oktober
Fast genau achtundvierzig Stunden, nachdem Enrico seinem Vater gegenübergetreten war, passierte eine große schwarze Limousine die bewachte Einfahrt zu dem Anwesen nördlich von Neapel. Der Mercedes fuhr den gewundenen, von Zypressen gesäumten Weg zum Haupthaus entlang und wurde dort bereits von einem etwa fünfzigjährigen Geistlichen im schwarzen Anzug erwartet. Dieser Mann, dem sein untersetzter, massiger Körper eher das Aussehen eines Ringers als eines kirchlichen Würdenträgers verlieh, hieß Francesco Buffoni und war der Privatsekretär von Lucius IV. Als die Limousine auf dem unbefestigten Vorplatz anhielt, wirbelte sie eine kleine Staubwolke auf, die Buffoni husten ließ. Der Chauffeur und ein Leibwächter stiegen aus, um die hinteren Türen zu öffnen. Zwei Geistliche kamen aus dem Fond des Wagens und gingen zu Buffoni, der sie mit steifer Förmlichkeit begrüßte und ins Haus führte. Er brachte sie in jene Bibliothek, in der Tomás Salvati zwei Tage
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