Engelsfluch
nachholen.
Wollen wir uns heute Abend zum Essen treffen? Das Restaurant hier im Hotel soll sehr gut sein.«
»Einverstanden«, sagte Elena.
Als Enrico allein war, klangen seine Beklemmung und das Schwindelgefühl langsam ab. Er schämte sich für den jämmerlichen Eindruck, den er bei Elena und den anderen Gästen hinterlassen haben musste. Mehr noch aber wunderte er sich über den Vorfall. Sicher, er kannte diese Traumbilder, die seltsame Stimme in seinem Kopf und die Schwindelanfälle.
Aber bislang hatte ihn all dies immer nur nachts heimgesucht, im Schlaf. So schlimm ein Alptraum auch sein mochte, man konnte ihm immer entfliehen, indem man aufwachte. Wie aber sollte man vor Alpträumen fliehen, die in den Wachzustand einbrachen, in die Realität?
Obwohl Enrico sich hundemüde fühlte, legte er sich nicht zum Schlafen hin. Er hatte Angst vor dem Schlaf, einem Zustand, in dem er seinen Träumen erneut ausgeliefert war.
Stattdessen kramte er in seinem Koffer, bis er das Buch fand, das seine Mutter ihm auf dem Sterbebett gegeben hatte. Sie hatte nicht mehr viel sagen können, aber ihre wenigen, leisen, brüchigen Worte klangen ihm noch im Ohr: »Lies das, Enrico, und versteh!«
Es war ein altes Tagebuch, zweihundert Jahre alt, und der lederne Einband war an vielen Stellen brüchig. Enrico hatte arge Mühe, die altertümliche, teilweise schon arg verblichene Handschrift zu entziffern. Bisher hatte er nur die Eintragung auf der ersten Seite gelesen und herausgefunden, dass es sich um die Aufzeichnungen eines gewissen Fabius Lorenz Schreiber handelte, eines Vorfahren des Mannes, den Enrico fast sein ganzes Leben lang für seinen leiblichen Vater gehalten hatte.
Sosehr er auch darüber gegrübelt hatte, ihm war nicht klar geworden, warum seine Eltern ihm die Wahrheit verschwiegen hatten, so lange, fast bis zum Tod seiner Mutter. Vielleicht sollte er ihren Rat befolgen und tatsächlich diese alten Aufzeichnungen lesen, um zu verstehen. Sie handelten von einer Reise nach Oberitalien, also in die Gegend, in der er jetzt war.
Deshalb hatte Enrico das Buch in sein Gepäck gesteckt, bevor er in Hannover zum Flughafen fuhr.
Er machte es sich im Bett bequem, stopfte das Kissen in seinen Rücken und konzentrierte sich auf die altertümlichen, kunstvoll geschwungenen Buchstaben, die sich allmählich zu Silben und Worten formten …
Das Reisebuch des Fabius Lorenz Schreiber, verfasst
anlässlich seiner denkwürdigen Reise nach Oberitalien im
Jahre 1805
Erstes Kapitel – »Banditi!«
Nun, da meine Reisekutsche an diesem heißen Sommertag des Jahres 1805 durch die waldreichen Hügel Norditaliens rumpelte, stellte ich mir zum wiederholten Male die Frage, ob ich richtig gehandelt hatte, als ich beschloss, dem höchst seltsamen Aufruf zu folgen. Die schlechte, vorwiegend aus Löchern bestehende Straße ließ den Kutschaufbau fortwährend von einer Seite zur anderen schaukeln, als sei er nicht mehr denn ein loses Blatt im Herbstwind. Längst hatte ich es aufgegeben, mich mit den Armen abzustützen, um meinen Kopf vor allzu heftigen Stößen zu bewahren. Dennoch blieb ich vor den übelsten Kollisionen meines Schädels mit den Verstrebungen des Gefährts verschont. Eine gewisse Gewöhnung an die nicht gerade komfortable Fahrt hatte sich eingestellt, wie von selbst reagierten meine Glieder und Muskeln auf die Bewegungen der Kutsche und brachten meinen Oberkörper in die jeweils günstigste Position. Fast fühlte ich mich wie ein Seemann auf schwankendem Deck, dem es in Fleisch und Blut übergegangen ist, seine Körperhaltung dem Rhythmus des Meeres anzupassen.
Im Gegensatz zu einem Seemann aber war ich nicht gegen die Auswirkung der ständigen Schaukelei auf meine inneren Organe gefeit. Schon seit Stunden kämpfte ich gegen die Übelkeit an, und die Mittagshitze tat ein Übriges, mir die dicksten Schweißperlen auf die Stirn zu treiben. Als mein vormals weißes, sauberes Taschentuch ein vom Schweiß durchtränktes graues Knäuel war, beugte ich mich aus dem offenen Fenster und rief Peppo in einem recht ungehaltenen Tonfall zu, er möge gefälligst etwas langsamer fahren und sich nach einem geeigneten Ort für eine Mittagsrast umsehen. Der hohlwangige Italiener auf dem Bock blickte mich entgeistert an, schüttelte dann den Kopf, noch heftiger, als die Kutsche wackelte, und schlug meine Bitte mit einem einzigen, inbrünstig ausgestoßenen Wort ab: »Banditi!«
Auch das noch, wir durchquerten also ein Gebiet, in dem Räuber
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