Engelsfluch
sobald sich der Zustand der Patientin ändert«, versicherte der Arzt, und Enrico gab ihm seine Visitenkarte mit der Handynummer.
Als er das Krankenhaus verließ, empfing ihn Nieselregen, und ein frischer Wind wehte von den Bergen herab. Mit hochgeschlagenem Kragen ging er über den Parkplatz zu seinem Mietwagen. Auf halbem Weg wurde er von der Lichthupe eines Autos geblendet, das auf den Parkplatz einbog. Es war ein Streifenwagen der Polizei, und hinter dem Lenkrad erkannte Enrico den fülligen Polizisten, der am Vortag den Einsatz in den Bergen geleitet hatte.
Der Polizist stieß die Fahrertür auf, streckte den von der Polizeimütze beschirmten Kopf heraus und rief: »Steigen Sie bitte bei mir ein, Signor Schreiber! Ich möchte mit Ihnen sprechen. Draußen im Regen ist es zu ungemütlich.«
Neugierig folgte Enrico der Aufforderung und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
»Fulvio Massi, Commissario«, stellte der Polizist sich vor und fügte nicht ohne Stolz hinzu: »Stellvertretender Polizeichef von Pescia. Ich war bei Ihnen im Hotel. Als ich Sie dort nicht antraf, vermutete ich, dass ich Sie hier finde.«
»Gut kombiniert, Commissario. Was gibt es so Dringendes?«
»Sie haben doch in Borgo San Pietro nach Angehörigen der Familie Baldanello gesucht, aus der Ihre Mutter stammt.«
»Stimmt. Und der Ermordete, der Bürgermeister, sagte mir, dass es keine Baldanellos mehr im Dorf gibt. Sie sind tot oder weggezogen.«
»Da hat er Sie falsch informiert. Ob absichtlich oder aus Unkenntnis, weiß ich nicht. Jedenfalls lebt in Borgo San Pietro eine alte Dame namens Rosalia Baldanello. Ihr scheint es gesundheitlich nicht sonderlich gut zu gehen. In den letzten Monaten wurde sie zweimal hier ins Hospital eingeliefert. Ich muss ohnehin nach Borgo San Pietro und wollte Sie fragen, ob Sie mich begleiten möchten. Wir könnten uns während der Fahrt unterhalten. Dann brauche ich mir nicht die ganze Zeit das Radiogedudel und den Polizeifunk anzuhören.«
»Aber ich habe hier meinen Wagen stehen.«
Massi verzog sein breites, von einem schmalen Schnurrbart verziertes Gesicht zu einem Lächeln. »Ich bringe Sie selbstverständlich wieder zurück.«
Enrico erklärte sich einverstanden. Im Krankenhaus konnte er zurzeit nichts tun, und er war neugierig, eine mögliche Verwandte kennen zu lernen. Er glaubte nicht, dass Bürgermeister Cavara nicht von der Frau gewusst hatte. In einem kleinen Ort wie Borgo San Pietro kannte jeder jeden.
Wahrscheinlich war Cavaras Auskunft hinsichtlich der Familie Baldanello ebenso eine Lüge gewesen wie seine Behauptung, der Pfarrer sei nach Pisa gefahren. Wenn man dann auch noch den Mord berücksichtigte, steckte vermutlich etwas Größeres hinter der Sache. Etwas, das über Enricos persönliche Betroffenheit hinaus seinen Spürsinn weckte. Strafrecht hatte ihn immer sehr interessiert, und das unscheinbare Borgo San Pietro schien ein düsteres Geheimnis zu hüten.
Sie überquerten den Fluss, bogen nach rechts ab, ließen das Hotel »San Lorenzo« hinter sich und fuhren in die Berge hinauf, während der Regen dichter wurde. Die Scheibenwischer des Polizeiwagens arbeiteten unentwegt, wenn auch unter protestierendem Quietschen.
»Wie kommt es, dass Sie in diesem Fall ermitteln, Commissario Massi?«, fragte Enrico. »Ich dachte, damit sei die Kriminalpolizei befasst.«
»Kriminalpolizei!«, schnaufte Massi verächtlich, während er den Wagen abbremste, um durch eine enge Kurve zu fahren.
»Immer wenn es in Pescia eine größere Sache aufzuklären gilt als einen Handtaschenraub oder einen Einbruch, rücken die werten Kriminalpolizisten aus der großen Stadt bei uns an und glauben, sie haben die Weisheit mit Löffeln gefressen. Für die Polizei von Pescia ist es eine Frage der Ehre, den Fall selbst aufzuklären.«
»Dann sind Sie quasi in inoffizieller Mission unterwegs?«
»Ich bestimme als stellvertretender Polizeichef von Pescia selbst meine Mission. Und ich halte es für tausendmal sinnvoller, mich in Borgo San Pietro umzuhören, anstatt mich wie diese Kriminalbeamten im Verhörzimmer mit einem Pfarrer herumzuschlagen, der so stumm ist wie ein ganzes Meer voller Fische.«
»Pfarrer Umiliani schweigt immer noch?«
»Wie ein Grab. Er gibt frank und frei zu, den Bürgermeister mit dem Kerzenleuchter erschlagen zu haben. Er sagt auch, dass er keineswegs in Notwehr gehandelt habe und dass seine Tat eine schwere Sünde und ein Verstoß gegen Gottes Gebote sei.
Er lehnt sogar die
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