Engelsfluch
wieder besser fühlen, würde ich Sie gern zum Palazzo geleiten.«
War der Oberst lediglich ein Bote, der eine Einladung überbrachte? Oder war er mein Wächter, der darauf achten sollte, dass ich es mir nicht im letzten Augenblick anders überlegte? Ich wusste die Antwort nicht und dachte auch nicht sonderlich lange darüber nach. Zu groß war die Neugier auf meinen Auftraggeber. Meine innere Stimme sagte mir, ich würde ihn in dem großen Gebäude da drüben, dem Palazzo der Fürstin, bestimmt treffen. Deshalb war es aufrichtig von mir, als ich dem Colonel sagte, dass ich die Einladung mit Freuden annähme. Gefolgt von Riccardo und Maria, näherten wir uns dem Palazzo, und mit jedem Schritt wuchs meine Spannung.
7
Pescia, Donnerstag, 24. September
Enrico hatte bis weit nach Mitternacht gelesen. Dann hatten die Aufregungen des Vortags ihr Recht gefordert. Er konnte gerade noch Fabris Lorenz Schreibers Tagebuch weglegen und das Licht ausknipsen, bevor er in einen tiefen Schlaf fiel. Er schlief so fest, dass er keine Erinnerung an seine Träume hatte, und das war ihm nur recht. Der neue Tag begrüßte ihn mit einem diffusen Grau. Der Sommer schien sich zu verabschieden. Eine dicke Wolkendecke lag über den Bergen und schob sich beständig weiter nach Süden. Als Enrico aus dem Bad kam, erinnerte ihn ein schmerzhaftes Gefühl in der Magengegend daran, dass er seit ungefähr vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hatte. Er nahm seinen Toskana-Reiseführer mit in den Frühstücksraum, um mehr über jene Stadt Lucca zu erfahren, in die es Fabius Lorenz Schreiber verschlagen hatte. Unterwegs fragte er an der Rezeption, ob eine Nachricht für ihn vorliege. Er wusste nicht, ob er hoffen oder fürchten solle, dass jemand aus dem Krankenhaus für ihn angerufen hatte. Als die hübsche Blondine am Empfang ihm mitteilte, dass sie nichts für ihn habe, verspürte er Erleichterung. Wenigstens schien es Elena nicht schlechter zu gehen. Er nahm sich vor, gleich nach dem Frühstück zum Krankenhaus zu fahren. Während er mehr mechanisch als mit Lust aß und dazu einen Capuccino und Orangensaft trank, dachte er über die Aufzeichnungen in dem Tagebuch nach. Er wusste nicht recht, was er von diesem Fabius Lorenz Schreiber halten sollte. Seine Erlebnisse erschienen Enrico zuweilen sehr abenteuerlich. Hatte der Chronist sich strikt an die Fakten gehalten? Oder hatte er seiner Phantasie freien Lauf gelassen, um seinen Ruf bei seinen Zeitgenossen und für die Nachwelt aufzuwerten? Enrico wusste es nicht, aber zumindest war der Reisebericht sehr unterhaltsam.
Er schlug seinen Toskana-Führer auf und suchte den Abschnitt über Lucca. Die Stadt wurde als malerisch beschrieben, ihr Kern umgeben von einer vollkommen intakten alten Stadtmauer. Die Straßen dort mussten auch heute noch so ähnlich aussehen, wie Fabius Lorenz Schreiber sie beschrieben hatte. Die Herrschaft Elisa Bonapartes wurde in nur wenigen Zeilen erwähnt, aus denen Enrico keine neuen Erkenntnisse gewann. Für kulturhungrige Touristen schien Lucca ein wahrer Schatz zu sein, aber was hatte die Stadt für Fabius Lorenz Schreiber bereitgehalten? Sicher würde er es erfahren, wenn er Muße fand, die Lektüre fortzusetzen.
An diesem Morgen aber trieb ihn die Sorge um Elena zum Krankenhaus in Pescia, wo er sich nach Dr. Addessi erkundigte.
Die Ärztin war nicht im Haus, und er wurde an einen gewissen Dr. Cardone verwiesen, den Leiter der Intensivstation. Laut Cardone war Elenas Zustand unverändert.
»Darf ich sie sehen?«, fragte Enrico.
»Es ist kein erheiternder Anblick«, warnte ihn der Arzt.
»Vielleicht hilft es mir trotzdem.«
»Va bene« , sagte Cardone nach kurzem Überlegen und führte ihn zu Elenas Krankenzimmer.
Der Arzt hatte Recht gehabt, der Anblick war deprimierend.
Mit geschlossenen Augen, einen dicken Verband um den Kopf, lag Elena in einem Bett, über dem Überwachungsgeräte ein monotones Dauerfeuer an optischen und akustischen Signalen ausstießen. Die zahlreichen Kabel und Schläuche, durch die Elena mit den Geräten verbunden war, erweckten in Enrico die Erinnerung an Horrorfilme, in denen durchgeknallte Wissenschaftler mit menschlichen Körpern experimentierten.
Einerseits konnte er den Anblick kaum ertragen, aber er konnte sich auch nicht von Elena lösen. Cardone schien zu ahnen oder aus Erfahrung zu wissen, was in Enrico vorging, und schob ihn mit sanfter Gewalt aus dem Zimmer.
»Sie können sich darauf verlassen, dass wir Sie informieren,
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