Engelsfluch
Hinzuziehung eines Anwalts ab, hat nur um geistigen Beistand gebeten. Aber wenn er nach dem Grund für seine Tat gefragt wird, stellt er auf stur. So etwas habe ich in all den Jahren als Polizist noch nicht erlebt, wirklich nicht.«
»Vielleicht ist er einfach verrückt?«, fragte Enrico. Massi schüttelte den Kopf. »Den Eindruck macht er nicht. Natürlich werden psychologische Gutachten über seinen Geisteszustand angefertigt werden, aber ich wette um ein Jahresgehalt, dass nichts dabei herauskommt.«
»Das wäre auch zu einfach gewesen und hätte nicht erklärt, warum Cavara mich angelogen hat.«
Massi warf ihm einen kurzen, hoffnungsvollen Blick zu.
»Den Grund werden wir hoffentlich in Borgo San Pietro erfahren.«
»Ja, hoffentlich«, pflichtete Enrico ihm nicht sonderlich enthusiastisch bei. Seine bisherigen Erlebnisse in dem Dorf ließen ihn nicht viel erhoffen. Er musste wieder an Elena denken und fragte: »Haben Sie inzwischen Angehörige von Signorina Vida ausfindig gemacht? Ihre Familie müsste verständigt werden.«
»Bislang sieht es so aus, als hätte sie keine Angehörigen.
Aber unsere Kollegen in Rom recherchieren noch.«
»Was ist mit ihrem Handy? Wie die meisten Menschen wird auch sie die Nummern der wichtigsten Bezugspersonen eingespeichert haben.«
»Wir haben kein Handy bei ihr gefunden, auch nicht in ihrem Hotelzimmer. Vermutlich hat sie es auf der Flucht verloren.«
Der Himmel hatte sämtliche Schleusen geöffnet, als Fulvio Massi den Polizeiwagen endlich am Rande von Borgo San Pietro abstellte. Das Dorf mit seinen abweisenden Mauern wirkte unter den grau-schwarzen Wolken düster, geheimnisvoll und bedrohlich. Der Anblick jagte Enrico einen Schauer über den Rücken, falls es nicht der kalte Wind war, der ihm frech ins Gesicht blies. Er dachte an das Unheil, das gestern hier über den Bürgermeister und über Elena gekommen war, und er fragte sich, welche bösen Überraschungen Borgo San Pietro noch bereithielt.
»Haben Sie einen Schirm?«, fragte Massi.
»Nein.«
»Ich auch nicht.«
Die engen Gassen boten ein wenig Schutz vor Wind und Regen, und so waren sie nicht völlig durchnässt, als sie das Haus des Bürgermeisters erreichten. Drinnen waren viele Menschen versammelt, und alle trugen Schwarz. Enrico meinte, vorwurfsvolle Blicke zu spüren, und er konnte es den Dorfbewohnern nicht einmal verdenken. Auch wenn Pfarrer Umiliani den Mord eingestanden hatte, blieb sein und Elenas Besuch für die Menschen hier untrennbar mit dem Tod ihres Bürgermeisters verbunden. Und mit dem Verlust ihres Pfarrers.
Für einen kleinen Ort wie diesen waren das gewiss die beiden wichtigsten Männer. Insofern bedeutete der gestrige Tag nicht nur für die Familie Cavara, sondern für das gesamte Dorf eine Katastrophe.
Die Witwe des Ermordeten nahm die Beileidsbekundungen Massis und Enricos mit unbewegtem Gesicht entgegen und führte die beiden in einen kleinen Raum, in dem sie ungestört waren. Es war ein Büro mit Aktenschrank und Computer, wo Benedetto Cavara vermutlich seinen Papierkram erledigt hatte.
Enrico wunderte sich, in was für einem vertrauten Tonfall Massi mit Signora Cavara sprach.
»Wie geht es den Kindern?«, fragte der Polizist.
»Sie haben alle geweint, aber den kleinen Roberto hat es besonders schlimm getroffen. Er kriegt den Anblick seines toten Vaters nicht aus dem Kopf.«
»Vielleicht sollten die fünf Borgo San Pietro für eine Weile verlassen.«
»Daran habe ich auch schon gedacht. Benedettos Schwester wird sie mit nach Montecatini nehmen.«
»Gut, sonst hätte ich mich angeboten. Die Kinder sind immer gern im Polizeiwagen gefahren. Sag Bescheid, wenn du meine Hilfe brauchst. Sag mal, was wollte Benedetto gestern vom Pfarrer?«
Signora Cavara schwieg und überlegte, bevor sie sagte: »Das weiß ich nicht. Er sagte nur, er muss Don Umiliani etwas Wichtiges sagen und ist zurück, bevor das Essen kalt wird. Als er nicht kam, habe ich Roberto geschickt, um nachzusehen.
Wäre ich bloß selbst gegangen!«
»Hatte der plötzliche Besuch beim Pfarrer etwas mit diesem Mann hier und seiner Begleiterin zu tun?«
»Das weiß ich nicht.«
»Aber sie sind kurz vorher bei euch gewesen, oder?«
»Ja.«
»Und was wollten sie?«
»Sie fragten nach der Familie Baldanello.«
»Was hat dein Mann geantwortet?«
Die Frau zögerte.
»Antonia, was hat Benedetto geantwortet?«
»Er sagte, dass es hier keine Angehörigen der Familie Baldanello mehr gibt.«
»Stimmt das?«, hakte
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